Deutschland: Wie Merkel zur Ausstiegskanzlerin wurde

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Binnen eines halben Jahres musste die deutsche Bundesregierung aus den sogenannten Wirtschaftsparteien CDU/CSU und FDP ihre Atompolitik völlig revidieren. Angela Merkel stellt sich an die Spitze des Ausstiegs.

Wien/Berlin. Als Gerhard Schröder und Joschka Fischer Montagfrüh die Nachrichten aufdrehten, wähnten sie sich wohl im falschen Film: Eine deutsche Bundesregierung verkündet den endgültigen Atomausstieg – aber es ist keine rot-grüne Regierung, sondern eine aus den sogenannten Wirtschaftsparteien CDU/CSU und FDP. Genau jene Parteien also, die den ersten Atomausstieg, den die Regierung Schröder-Fischer 2002 mühsam festgezurrt hatte, noch als größten anzunehmenden Schaden für die deutsche Wirtschaft dargestellt hatten.

Genau jene Parteien, die noch im Herbst den „Ausstieg vom Ausstieg“ zelebriert und den vier deutschen AKW-Betreibern Laufzeitverlängerungen zugebilligt hatten. Eine „Revolution“ nannte die sonst nicht zu kräftigen Worten neigende Kanzlerin Angela Merkel den damaligen Beschluss. Die wahre Revolution wurde dann durch die Katastrophe von Fukushima angestoßen – die Physikerin Angela Merkel stellte sich an die Spitze des Ausstiegs: verkehrte Welt in Berlin.

Die letzten drei gehen 2022 vom Netz

Dementsprechend schwer tun sich auch SPD-Chef Sigmar Gabriel und das grüne Führungskleeblatt Roth/Özdemir/Künast/Trittin mit dem, was da gerade passiert: Als Opposition müssen sie qua Job-Description die Regierung kritisieren, doch wofür eigentlich? Dafür, dass diese noch entschiedener aus der Kernenergie aussteigen wird, als es Rot-Grün damals den Energiekonzernen abtrotzen konnte? „Die Hintertüren sind noch nicht zu“, versuchte Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sich als Beckmesser, Gabriel wiederum sprach von „Vorstellungen, die mit der technischen Wirklichkeit wenig zu tun haben“. Damit meinte er den einen Meiler, den die Regierung als eiserne Reserve in der Hinterhand behalten will. Dies geht aus dem nun besiegelten Ausstiegsszenario hervor, über dessen Details noch in die Nacht auf Montag hinein im Berliner Kanzleramt verhandelt wurde.
•Bis 2021 sollen fast alle 17 deutschen Atommeiler abgeschaltet sein. Seit Juli 2009 vom Netz ist bereits der Pannenreaktor Krümmel nahe Hamburg. Er wird ebenso wenig wieder hochgefahren wie sechs der sieben ältesten Reaktoren (Unterweser, BiblisA und B, Philippsburg, Isar1, Neckarwestheim und Brunsbüttel). Sie waren kurz nach Fukushima zunächst vorübergehend abgeschaltet worden. Einer soll in einer Art Stand-by-Modus weiterlaufen, um zu Zeiten erhöhten Energiebedarfs, etwa im Winter, einspringen zu können, damit es nicht „dunkel wird in Deutschland“.
•Noch bis 2022 will man drei Reaktoren als Reserve behalten, die Strom liefern sollen, wenn sich der Umstieg auf andere Energiequellen nicht rasch genug realisieren lässt, um den Bedarf zu decken. Immerhin kam zuletzt mehr als ein Viertel des in Deutschland verbrauchten Stromes aus AKW.
•Es gibt keine Revisionsklausel, wie sie die Opposition gefürchtet hatte: Der Ausstieg sei unumkehrbar, meinte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) am Montag.
•Die Brennelementesteuer bleibt bis 2016. Ursprünglich sollte sie 2,3 Mrd. Euro jährlich in die Staatskasse spülen, durch die bereits erfolgten Abschaltungen verringerte sich der Betrag um eine ganze Milliarde. Ein Teil des Geldes soll für dringend nötige Reparaturarbeiten am gefährdeten Atommüll-Zwischenlager Asse verwendet werden.

Als Grundlage für die neuerliche Energiewende diente der Regierung der am Montag präsentierte Bericht einer von ihr eingesetzten Ethikkommission, geleitet von Ex-Umweltminister Klaus Töpfer und Matthias Kleiner, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dem Gremium, das Wissenschaftler, Gewerkschafter und Vertreter der Kirchen umfasste, wurde vorgeworfen, nur die Begründung für den von ihr im Stillen schon gefassten Beschluss zu liefern. Mit seinem Bericht, der einen Ausstieg binnen zehn Jahren oder schneller fordert, hat das Gremium seine Schuldigkeit getan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2011)

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