Hengstschläger: "Wir sind in einer Durchschnittsfalle"

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Der Genetiker Markus Hengstschläger erklärt im Interview, warum ein guter Durchschnitt keine Antwort auf Fragen der Zukunft sein kann, und kritisiert das, was viele Unternehmen heute unter Innovation verstehen.

Die Presse: Ich möchte mit Ihnen

heute gerne über Innovation und Bildung sprechen ...

Markus Hengstschläger: Wir sind zurzeit in Österreich und weit über die Grenzen hinaus in einer Durchschnittsfalle angelangt. Wir wollen primär den Durchschnitt heben. Das ist aber für die Bewältigung der Aufgaben, die auf uns zukommen, zu wenig.

Was genau bedeutet das für den Bereich der Innovation?

Der derzeitige Ansatz scheint der zu sein, dass wir ein bestehendes Produkt billiger herstellen wollen, breiter anwendbar oder länger haltbar machen wollen, im Vertrauen darauf, dass das, was wir haben, so schlecht ja gar nicht ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass das überhaupt keine Lösung ist und auch nicht innovativ. Dafür kann ich Ihnen ein Beispiel aus meinem Fach geben.

Was kann man denn aus der Genetik für den Bereich der Innovation ableiten?

Gut beschreiben lässt sich das anhand der Hydra, eines zentimetergroßen Polypen, der sich sowohl sexuell als auch asexuell fortpflanzen kann. Wenn die Hydra in einer Pfütze schwimmt und sich fortpflanzen will, braucht sie im Prinzip keinen Zweiten. Sie kann sehr effizient ein genetisch identes Tierchen schaffen. Und wenn die Pfütze leer ist, also der Markt der Zukunft unerschlossen, und ich ein Produkt habe, von dem ich glaube, dass es gut ist: Warum sollte ich es dann nicht möglichst effizient reproduzieren?

So läuft es Ihrer Meinung nach derzeit in der Wirtschaft ab?

Das ist es, was zur Zeit alle machen. Eine Firma wird oft als umso innovativer eingestuft, je mehr von ihrem einen Produkt sie auf dem Markt hat. Aber innovativ kann man nicht sein, indem man den alten Weg schneller geht – auch, wenn sich viele damit zufrieden zu geben scheinen.

Innovation aus Ihrer Sicht wäre etwas ganz anderes.

Ja. Denn das löst nur die Probleme der Gegenwart. Wenn es in der Pfütze um zwei, drei Grad wärmer wird oder der pH-Wert steigt und das erste Tierchen das nicht aushält, werden alle sterben, weil sie ja genetische Kopien sind. Das wäre der Durchschnittsansatz. Damit haben wir auf Veränderungen der Umwelt in der Zukunft keine Antworten.

Und der andere Ansatz?

Der ist, dass zwei Tierchen sich sexuell fortpflanzen und dadurch Nachkommen entstehen, die nicht identisch sind, sondern individuell. Zuerst scheint das riskant, es könnten ja welche dabei sein, die keine Vorteile bringen. Denn die Innovation bewährt sich ja erst im Wechselspiel mit der Umwelt, in der Biologie wie in der Wirtschaft. Aber wenn es jetzt wärmer wird oder der pH-Wert steigt, werden einige dabei sein, die etwas können, was die anderen nicht können: überleben. Individualität ist das höchste Gut der Innovation.

Man muss dabei aber auch Sackgassen in Kauf nehmen.

Man nimmt sogar viele Sackgassen in Kauf. Aber das müssen wir uns leisten. Denn die Gefahr, dass keiner von uns eine Antwort hat und dadurch alle aussterben, ist zu groß.

Haben Sie da ein Beispiel abseits der Biologie?

Sie können das auf die Finanzkrise umlegen. Da haben sehr viele das Gleiche gemacht. Und in einer geänderten Umwelt war das, was vorher hochinnovativ war – Immobilieninvestment etwa –, plötzlich vom Aussterben bedroht. Wir können uns nicht auf den Durchschnitt verlassen, nicht in der Innovation und nicht in der Bildung.

Ein Gegenstück zum Durchschnitt wäre die Elite – ein Begriff, mit dem man sich in Österreich schwer tut.

Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Natürlich ist es wichtig, den Schnitt zu heben, aber es ist noch wichtiger, dass es Besonderheiten gibt.

Wie geht das zusammen? Für viele sind Elitenförderung und Hebung des Durchschnitts ein Widerspruch.

Beides muss gleichzeitig existieren. Vor allem bei bildungsfernen Schichten müssen wir uns viel Arbeit antun, sonst gehen uns unglaublich viele Talente verloren. Es wäre fatal zu sagen, wir kümmern uns nur um die Elite, weil man ja nicht weiß, was die Elite von morgen ist, wenn wir die Fragen von morgen nicht kennen. Gleichzeitig müssen wir Spitzen fordern und fördern, sodass die nächste Generation das in Frage stellen kann, was bisher existiert.

Wie sehr sehen Sie, dass das derzeit im Bildungssystem passiert?

Österreich läuft Gefahr, sich mit dem Durchschnitt zufriedenzugeben. Aber das Humankapital, von dem ich glaube, dass wir ein enormes haben, misst man nicht, indem man den Durchschnitt bestimmt. Es ist wichtig, dass wir nicht abfallen, aber viel wichtiger ist mir als Wissenschaftler, dass alles getan wird, um die Spitzen zu entdecken und zu fördern.

Kann man das in Zeiten einer Massenuniversität, der oft Mittelmäßigkeit vorgeworfen wird?

Dass einmal alle einen Zugang haben – die Guten, die Schlechten, die Talentierteren und die weniger Talentierten –, ist grundsätzlich nicht schlecht. Ich plädiere für einen breiten Zugang und dafür, dann möglichst schnell für jedes Fach spezifische Talente zu suchen.

Passiert das derzeit in Österreich?

Nicht unbedingt. Schon in der Schule haben wir ein System, wo wir bei unserem Gegenüber das finden, was er nicht kann. Und dann sagen wir: „Mit dem wirst du dich ab sofort umso mehr beschäftigen.“ Wir brauchen aber ein treffsicheres System, um herauszufinden, was jeder besonders gut kann.

Zurück zur Innovation: Dauert es in Österreich zu lange, bis Wissen aus den Unis hinausdiffundiert?

Traditionell haben wir damit in Österreich ein mentales Problem. Wenn ein Forscher Spin-offs gründet, sich dafür interessiert, seine Entdeckungen in Patente umzusetzen, oder gar Firmenteilhaber ist, sieht man ihn oft schief an. Ich sehe das überhaupt nicht so. Die Wirtschaft will es so, und die Uni will es so. Aber es gibt immer noch diesen schalen Beigeschmack.

Es braucht mehr Durchlässigkeit?

Ja, wobei auch die Wirtschaft der Forschung einen Schritt entgegenkommen muss. Die stellen sich eine Zusammenarbeit oft so vor, dass sie ein fixfertiges Produkt bekommen oder ansagen können, was sie wollen. Das kann sich ein Forscher nicht nur nicht gefallen lassen, das kann er auch gar nicht machen.

Muss sich die Wirtschaft mehr auf die akademische Welt einlassen?

Es braucht mehr Verständnis dafür, wie akademische Forschung funktioniert. Die Leute fragen sich: Wo ist der Druck, was ist, wenn da nichts rauskommt? Aber in der Wissenschaft ist das halt einmal so. Für die Wirtschaft ist das schwer zu akzeptieren.

Zur Person

Markus Hengstschläger (43) ist das österreichische Aushängeschild der Humangenetik. Der gebürtige Linzer leitet seit 2005 das Institut für Medizinische Genetik an der Wiener Med-Uni. Eine seiner größten Leistungen war die Entdeckung von Stammzellen im Fruchtwasser, ein anderes Thema ist die Erforschung der Erbkrankheit Tuberkulöse Sklerose.
Seit dem Vorjahr
ist Hengstschläger Mitglied des Rates für Forschung und Technologieentwicklung. Der verheiratete Vater zweier Kinder sorgt auch mit populärwissenschaftlichen Publikationen („Endlich unendlich“) für Aufsehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2011)

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