Griechenland: Angst vor Verlusten, Wut auf die Führung

Wegen der Schuldenmisere, in die die Politik das Land getrieben hat, ging in Athen auch die Mittelschicht auf die Straße.

Athen/Jes. Familie Karakitsou hat ihre Nachmittage im Juni immer wieder auf dem Athener Syntagma-Platz verbracht, wo Hunderttausende „aufgebrachte Bürger“ ihre Wut herausschrien. „Zum ersten Mal habe ich auch Kollegen gesehen, die mit Stühlen und Steinen nach Polizisten schmissen“, sagt die Beamtin Daphne Karakitsou. „Sie können nicht glauben, dass verloren geht, woran wir alle seit Generationen glauben: dass es den Kindern besser gehen wird als den Eltern.“

Der Nährboden für die Krawalle ist die Wut auf eine politische Führung, die Griechenland zwar in nur drei Jahrzehnten rasend schnell, aber ohne jede Vision von einer Agrar- zu einer Konsumgesellschaft hat werden lassen. Nicht über selbst erzeugte Konsumgüter wurde der Lebensstandard angehoben, sondern über Strukturfonds der EU sowie eine überproportionale Staatsverschuldung. Diese Kredite flossen hauptsächlich in ausländische Importgüter zurück und nicht in inländische Infrastrukturprojekte. Die politischen Eliten versäumten es, die Wirtschaftsstrukturen nachhaltig zu modernisieren. Stattdessen bedienten sie ihr Klientel mit Wahlgeschenken auf Pump. Den aufgeblähten Staatsapparat betrachteten sie als eine Art Selbstbedienungsladen, für die Bürger wurde er zur Versorgungsinstitution.

„Mazi ta fagame“, bekannte Vizepremier Theodoros Pangalos, was soviel bedeutet wie „Wir haben das öffentliche Vermögen gemeinsam verprasst“. Er wurde für diese Äußerung stark angefeindet, sind doch viele Bürger felsenfest davon überzeugt, dass nur die korrupten Politiker für die Schuldenmisere verantwortlich sind. Eingerichtet hatten sich aber alle in einem für griechische Verhältnisse nie dagewesenen Wohlstand. Doch der ist unter der Last des angehäuften Schuldenbergs nun nicht mehr finanzierbar.

Verständnis für die Randalierer

Die Angst, wieder auf ein Niveau der 1960er oder gar 1950er Jahre zurückzufallen, als Griechen zu Hunderttausenden auswanderten, treibt Familien wie die Karakitsous auf die Straße. Sie schmeißen keine Steine und gehen mit beiden Kindern nach Hause, wenn das Athener Zentrum wieder einmal unter einer Tränengaswolke zu ersticken droht.

Aber sie haben durchaus Verständnis für junge Leute, die Banken in Brand stecken und die Polizei attackieren – die Symbole für skrupelloses Finanzwesen und korrupte Staatsmacht. Für September, wenn weitere Sparmaßnahmen umgesetzt werden sollen, haben die großen Gewerkschaftsverbände bereits eine erneute Streikwelle beschlossen. Viele Beobachter fürchten einen „heißen Herbst“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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