„Sorge, dass das Morgen nicht so sein wird wie das Heute“

Der in Wien lebende Zukunftsforscher und Mathematiker John L. Casti über die Gemeinsamkeiten der Protestbewegungen und kollektive Stimmungen.

Die Presse: Gibt es Parallelen zwischen den Protesten im arabischen Raum und jenen in Israel, Spanien, Großbritannien, Griechenland, Chile?

John Casti: Ja, die gibt es. Die wichtigste Frage lautet: Wie denken die Menschen über die Zukunft? Diese Stimmung hat vor einigen Jahren auf negativ gedreht. Wir sehen aber erst jetzt die vollen Auswirkungen dieses Stimmungswandels. Die Leute haben die Sorge und das Gefühl, dass das Morgen nicht so sein wird wie das Heute, sondern schlechter: Ihre Kinder werden ein härteres Leben haben als sie.


Was können die Regierungen tun?

Die Probleme, vor denen Regierungen stehen, sind hoch komplex. Ihr Freiheitsgrad und Aktionsspielraum sind gering. Wenn man mit Maßnahmen zu lange wartet, läuft das schief. Die Euro-Krise zeigt das deutlich.


Hätte man die Proteste vorhersehen können?

Die einfache Antwort: Sobald eine wichtige Untergruppe der Bevölkerung zur Meinung gelangt, dass ihre Zukunft schlechter sein wird, ist man in der Gefahrenzone.


Wie schätzen Sie die Situation für Österreich ein?

Hier ist die Jugendarbeitslosigkeit sehr gering. Es gibt Perspektiven für die Jugend – ein sehr wichtiger Faktor, der stabilisierend wirkt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Österreich zu einer Revolution kommen könnte. Was ich mir aber vorstellen kann, ist ein weiteres Abdriften weiter Teile der Bevölkerung nach rechts. Niemand denkt nach, wie man offensiv der Krise begegnen kann. Die Menschen werden defensiv. Lokales Denken wird wichtiger als globales Denken, Sicherheit wichtiger als Wachstum, Angst siegt über Risikobereitschaft. Das macht es nicht einfacher, aus der Krise herauszukommen.


Wie soll man reagieren?

Denken wir an Hurrikans: Man kann vorhersagen, wann ein Zyklon eine Stadt erwischen wird. Aber man kann nicht viel dagegen tun. Was man tun kann: Lebensmittel und Wasser im Keller einbunkern, Batterien kaufen, Vorkehrungen treffen. Und so ist es auch in Zeiten wie diesen. Man kann wenig gegen diesen Sturm, der da tobt, tun, aber man kann die Gesellschaft widerstandsfähig machen und vor den Auswirkungen dieses Sturms schützen.

Wie lange wird dieser Sturm dauern?

Bis 2013, 2014. Das wird noch ein paar Jahre dauern. Dann wird die Talsohle durchschritten sein. Das heißt nicht, dass dann die Sonne wieder scheint und alles gut wird. Nein. Aber die Stimmung wird sich drehen. Der Crash geht viel schneller als die Erholung. Ein Vergleich: Wenn die Menschen ins Theater gehen, dann kommt einer nach dem anderen in den Saal. Aber wenn jemand „Feuer“ schreit, dann rennen alle zum Ausgang, eine Panik bricht aus.

Was ist eigentlich aus der Anti-Globalisierungsbewegung geworden? Man würde doch erwarten, dass diese Gruppen eine Renaissance feiern.

I wo! Wozu eine Anti-Globalisierungsbewegung, wenn die Globalisierung von ihren früheren Proponenten versenkt wird? Die Anti-Globalisierer haben gewonnen: Wir erleben derzeit Kantönligeist, Schrebergartendenken und Lokalisierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2011)

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