WTO-Chef Lamy: "Wir sind im roten Bereich"

Pascal Lamy sind roten
Pascal Lamy sind roten(c) EPA (LUCAS DOLEGA)
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Pascal Lamy sieht eine neue Rezession heraufdämmern. Eine wesentliche Ursache dafür liege in der politischen Führungsschwäche in den USA und Europa, meint er im Gespräch mit der "Presse".

Sie haben vor einem Jahr hier beim Trilog in Salzburg gesagt, die Welt habe noch keine Lehren aus der Finanzkrise gezogen. Man müsse sich deshalb auf die nächste Krise gefasst machen ...

Pascal Lamy: Ich fürchte, ich hatte Recht. Ich hätte es vorgezogen, falsch zu liegen.

Vergangene Woche brachen weltweit die Aktienkurse massiv ein. Steuert die Weltwirtschaft auf eine neue Rezession zu?

Wir sind offensichtlich im roten Bereich. Aus Gründen, die viel mit einem Mangel an Leadership zu tun haben. Es gibt zwei Wege, den roten Bereich zu verlassen: Entweder man fällt über die Klippe, oder man ergreift die notwendigen Maßnahmen dagegen.

Wessen Führungsschwäche meinen Sie?

Märkte brauchen eine Richtung, sie brauchen politische Orientierungspunkte. Wenn Trader keine Vorstellung davon haben, was nach monatelangen ideologischen Schlachten eigentlich aus dem amerikanischen Zwischen-Sparpaket wird, wenn Trader sehen, wie Europa auf die Schuldenkrise stets zu spät und zu schwach reagiert, immer nur Schritt für Schritt im Krebsgang, dann kaufen sie Gold oder flüchten in den Schweizer Franken. Denn es gibt einen Liquiditätsüberfluss, der auf eine zu freizügige Geldpolitik der Vor-Krisenzeit zurückzuführen ist. Im Kampf gegen die Krise wurde das System mit noch mehr Liquidität überschwemmt. Man kann heute Geld für beinahe null Zinsen leihen. Es gibt überall Liquidität, und die Leute sind auf der Suche nach irgendeiner Form der Anlage. Daher rührt auch das Paradoxon, dass Anleger auch trotz des unausgegorenen US-Sparpakets amerikanische Staatsanleihen kaufen. Sie haben keine Alternative.

Wie kann man das Geld wieder einsammeln?

Es ist furchtbar schwierig, das Geld zurückzupumpen, wenn die Wirtschaft flach liegt. Man müsste die Zinsen erhöhen. Doch wenn ein Staat Schulden in der Höhe von 80 Prozent seines BIPs hat und die Zinsen von zwei auf drei Prozent hinaufgesetzt werden, dann bedeutet das, abhängig von der Laufzeit der Schulden, eine Erhöhung der jährlichen Schuldenzahlungen um bis zu 50 Prozent. Das ist gefährlich.

Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir deutlich höhere Inflationsraten sehen?

Es gibt zwei Gründe, warum ich glaube, dass das Inflationsrisiko im historischen Vergleich geringer ist, zumindest in Europa: Alternde Bevölkerungen akzeptieren keine Inflation, sie leben von Pensionen, die fix sind. Und bei einer Inflation verlieren sie Kaufkraft. Wenn man nun noch bedenkt, dass die Wahlbeteiligung der jungen Bevölkerung viel geringer ist als bei den Alten, erzeugt das einen enormen politischen Druck, die Inflation niedrig zu halten. Zweitens bringt die Globalisierung immer noch Effizienzgewinne bei den Preisen. Chinas Wettbewerbsvorteil bei den Arbeitskosten sinkt zwar. Es wird nicht so stark Desinflation importiert werden können wie in den vergangenen 15 Jahren. Aber trotzdem dämpft die Globalisierung die Inflation.

Wird die Schuldenkrise mit ihren Sparzwängen den europäischen Wohlfahrtsstaat erschüttern?

Dieses Risiko besteht. Doch dann werden Fremdenfeindlichkeit und die Ablehnung der Globalisierung weiter angeheizt.

Das ist ein Dilemma, denn außer Ausgabenkürzungen werden die europäischen Wohlfahrtsstaaten nicht viel Spielraum haben.

Es mag idealistisch klingen. Aber warum kürzt man nicht die gewaltigen Verteidigungsausgaben? Wofür braucht man sie in der Welt von heute? Je mehr man sich auf Globalisierung verlässt, um Effizienzgewinne zu erreichen, desto mehr braucht man soziale Netze.

Sie beklagen die Führungsschwäche in Europa und den USA. Ist das lediglich auf die handelnden Personen zurückzuführen, oder ist dies Ausdruck einer grundlegenderen politischen Dysfunktionalität?

Beides; das spiegelt sich auch in einer Meinungsumfrage, die die Bertelsmann-Stiftung für den Salzburger Trilog durchführen ließ. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist bereit, globale Disziplin zu akzeptieren. Ihre Regierungen handeln aber nicht so. Ich bin also überzeugt, dass es sich um ein Leadership-Problem handelt. Das sah man zuletzt sowohl in den USA als auch in Europa, wo es langsam so aussieht, dass nicht nur Griechenland, Irland und Portugal vom Schuldenproblem erfasst sind, nicht nur Italien und Spanien, sondern möglicherweise auch Frankreich.

Fehlt nicht auch die Vision? Wenn man die Richtung nicht kennt und kein politisches Ziel hat, hilft auch Leadership nicht.

Ich stimme zu. Deswegen ist es nötig zu definieren, was wir auf globalem Maßstab kollektiv machen müssen. Das ist die Bedingung, um ein globales Bürgertum zu schaffen. Diese globalen Bürger können dann wiederum Druck auf ihre Regierungen ausüben.

Auch in der Euro-Krise wäre es vermutlich hilfreich, genauer zu wissen, welches politische Endziel, welche Finalität die Europäische Union anstrebt.

Richtig, gerade auch der europäische Fall hat viel mit einem Führungsvakuum zu tun. Das institutionelle Modell, das europäische Antworten aus einem Mix nationaler Antworten finden sollte, ist in gewisser Weise zusammengebrochen. Die Rolle der Europäischen Kommission wurde geschwächt.

Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy haben die Kommission praktisch kastriert. Als sie ihre Überlegungen zu einer Wirtschaftsregierung vorstellten, sprachen sie von zwei zusätzlichen Gipfeltreffen der Euro-Länder, die Kommission spielt in ihrem Konzept offenbar keine Rolle.

Ich frage mich, warum das kleinere Länder in der EU akzeptieren. Es wäre in ihrem objektiven Interesse, die Kommission zu stärken. Warum schließen sich die kleineren Länder in der EU nicht zusammen, wie das die Benelux-Staaten in den 60er- oder 70er-Jahren getan haben? Das ist ein Rätsel für mich. Natürlich füllen Merkel und Sarkozy jetzt auch ein Vakuum, aber dieses Vakuum haben sie zum Teil mit dem Lissabon-Vertrag selbst geschaffen, mit dieser seltsamen Konstruktion eines Präsidenten des Europarats. Es stellt sich noch immer die Frage, wen man anrufen muss, wenn man mit der EU sprechen will. Diese institutionelle Regression hängt mit der Erweiterung zusammen. Ich glaube aber dennoch nicht, dass die Erweiterung überhastet war. Man kann den Wind der Geschichte nicht aufhalten, bloß weil die europäischen Institutionen noch nicht so weit sind.

Welchen Ausweg sehen Sie aus der europäischen Schuldenkrise?

Eurobonds können die Situation entschärfen, und zwar in einem Doppelsystem: Eurobonds mit europäischen Garantien bis zu einem Schuldenstand von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was den Maastricht-Kriterien entspricht. Wer diese Grenze überschreitet, muss den Preis zahlen, als ob er Anleihen in nationaler Währung begäbe. Das würde Sinn machen.

Es macht auch Sinn, wenn sich Triple-A-Staaten wie Deutschland oder Österreich gegen Eurobonds sträuben. Sie müssten höhere Zinsen zahlen und hätten nicht wirklich eine Garantie dafür, dass dadurch die Schuldendisziplin im System steigt.

Natürlich muss es im Gegenzug für Eurobonds mehr bindende Disziplin beim makroökonomischen Schulden-Management geben. Das war übrigens die Logik des Stabilitätspakts, den dann auch Deutschland an den Rand gedrängt hat. Schröder und Chirac killten den Stabilitätspakt gemeinsam.

Eine der Lehren aus dem Scheitern des Stabilitätspakts müsste also sein, dass Europa ein strikteres, institutionell bindendes Sanktionen-System braucht.

Die Krise hat den Grad der gegenseitigen Abhängigkeit in der Euro-Zone aufgezeigt. Ebenso aufgezeigt wurde die Diskrepanz zwischen der Interdependenz und der notwendigen Solidarität. Ich kann total nachvollziehen, dass Deutsche und Österreicher strenge Regeln fordern, bevor sie für überschuldete Staaten zahlen sollen. Es gab aber auch schon vor der Griechenland-Krise Disziplinierungsmöglichkeiten im System. Ich habe 1988 für den damaligen Kommissionspräsidenten Delors mit den Deutschen den Kohäsionsfonds ausverhandelt. Die Deutschen erhielten eine Klausel, die bei einer Verletzung makroökomischer Disziplin das Einfrieren von Kohäsionsmitteln vorsah. Aber diese Klausel des Kohäsionsfonds wurde niemals implementiert. Denn die Regierungschefs wollten nett zueinander sein.

Niemand war offenbar stark genug, über die Einhaltung der Klausel zu wachen.

Die EU-Kommission hätte die Klausel aktivieren müssen. Aber die EU ist eben oft nur in der Theorie supra-national und nicht in der Praxis. Die Griechenland-Krise hat eine lange Vorgeschichte. Erinnern Sie sich an die Aufregung über die falschen griechischen Statistiken? Die EU-Kommission hatte eine Reform der Statistiken verlangt, der Europäische Rat hat dies damals aber abgelehnt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21. August 2011)

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