Nach dem Wahlerfolg im Saarland wird klar: Die Piraten etablieren sich auch ohne klares Programm. Mit der Bewegung ist auf Bundesebene ebenso zu rechnen - und das nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland.
Berlin. Das Programm der Piraten reicht selbst über den Tod hinaus. Man sollte, meinte einer der Ihren im Saarland, die Asche der Verstorbenen auf öffentlichen Plätzen verstreuen dürfen. Einspruch, konterte ein Parteifreund: Dann könnte sie ja auch auf Spielplätzen zu liegen kommen. Antrag vertagt. Und rasch ging es weiter, vor zwei Wochen, beim Zimmern des Last-Minute-Wahlprogramms der saarländischen Provinzpiraten. Am Ende stand da, neben den Dauerbrennern Freiheit im Netz, Transparenz und Mitbestimmung, noch manches mehr: von Tierrechten bis zur Aufhebung des Tanzverbots an Feiertagen.
Nach dem Neuwahlbeschluss im Jänner musste die kleine Truppe einen Kaltstart hinlegen. Doch sie wollte der Welt beweisen, dass sie kein Chaotenverein und keine Ein-Thema-Partei ist. Beides hat sie hingekriegt: improvisiert, naiv – und erfolgreich. Mit 7,4 Prozent der Stimmen enterten die Piraten am Sonntag den Landtag des kleinsten deutschen Flächenlandes. Nach dem Sensationserfolg von Berlin, wo sie im September fast neun Prozent erreichten, zuckte man bei den etablierten Parteien noch die Achseln: ein Jux, ein Hype, ein Großstadtphänomen. Berlin eben, wo viele junge Leute wohnen, die zuweilen auf verrückte Ideen kommen. Doch nun haben die Piraten gezeigt, dass sie auch mitten am Land nicht stranden. Der Rückenwind bläht ihnen die Segel für die Mai-Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – und die Bundestagswahlen im nächsten Jahr.
Jung, unpolitisch, männlich
Nun wachen die Parteistrategen auf. Eifrig versuchen sie, den Piratenwähler zu decodieren. Eines steht fest: Von Parteiprogrammen lässt er sich nicht beeindrucken. Die Saarland-Piraten waren in Umfragen schon stark, als noch unklar war, wofür die Politneulinge in der Region überhaupt stehen. Die Wählerstromanalyse zeigt: Es geht um Protestwähler, die der übliche Politbetrieb nervt. Die Piraten plündern in allen Lagern, von den Linken bis zur FDP, und sind vor allem für Nichtwähler attraktiv. Ihre Klientel ist jung, unpolitisch – und männlich: Unter den 18- bis 24-jährigen Männern sind sie mit 27 Prozent sogar die stärkste Kraft. Ein Verdacht liegt nahe: dass für viele von ihnen die Gefahr, nicht mehr ungestraft Musik gratis aus dem Internet laden zu können, das einzige politische Thema von Belang ist.
Die Politiker, die sie wählen, sind freilich weiter. Sie wissen: Auch die Grünen waren einmal eine Protestpartei der Jungen. Überlebt haben sie, weil sie ihr Hauptthema Umweltschutz tief in der Gesellschaft verankern konnten. Damit das auch bei der Netzpolitik möglich ist, muss sie breit gefasst werden. Dann geht es um Datenschutz, Information als kollektives Bildungsgut und neue Formen der Mitbestimmung. Wie schwer sich die Piraten bei anderen Themen tun, zeigen sie auch im Saarland. Zwar bekennen sie sich angesichts des Haushaltsnotstands zur Schuldenbremse. Aber zugleich wollen sie das Füllhorn des Sozialstaats noch kräftiger ausschütten: Gratiskinderbetreuungsplätze, Gratishochschulzugang, neue Nahverkehrsmittel. Wie das zusammenpassen soll, haben sie nicht verraten. Doch man darf die Piraten nicht unterschätzen: Sie lernen schnell. Nach dem Wikipedia-Prinzip setzen sie auf „Themen statt Köpfe“, auf eine „Schwarmintelligenz“, die sich Themen im virtuellen Raum rasch aneignet und ausdiskutiert – sei es durch Debatten auf Twitter oder Facebook, sei es durch die Abstimmungssoftware „Liquid Feedback“. Freilich lässt sich dieser neue Politstil schwer durchhalten, sobald sich die Piraten in den Institutionen verankern.
Schweden-Pioniere gekentert
Wer die Politik mitgestalten will, muss Koalitionen schließen. Das erfordert Paktfähigkeit – und diese ist ohne Absprachen, Hierarchien und Führungspersonen mit Pouvoir nicht denkbar. Die Piraten an der Basis dürfen dann nicht mehr meutern. Ihre Stärke aber macht den Reiz des demokratischen Experiments aus. So blicken die deutschen Piraten bei aller Euphorie auch besorgt auf das verblassende Vorbild aus Schweden. Die 2006 gegründete „Piratpartiet“ zog 2009 mit 7,1 Prozent der Stimmen ins Europaparlament – und erlitt bei der Reichstagswahl 2010 mit nur 0,65 Prozent Schiffbruch. Damit teilt sie nun das Schicksal von weltweit 21 Kleinstparteien unter Totenkopfflagge – auch in Österreich, der ersten Gründung nach schwedischem Muster. Aber der deutsche Erfolg schafft neue Voraussetzungen: Kann sich dort ein tragfähiges Modell durchsetzen, wird es wohl zum Exportschlager. Das Meer der Unzufriedenheit ist groß – und es gibt allerorten viel zu entern.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2012)