"Russland ist ein semiautoritäres System"

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Die Verlegerin Irina Prochorowa unterstützte ihren Bruder, Milliardär Michail Prochorow, im Präsidentenwahlkampf. Ein Gespräch über ihr Schwester-Sein, die russische Zivilgesellschaft und Putins Rückkehr.

Die Presse: Frau Prochorowa, Sie sind gerade in Wien. Haben Sie Wladimir Putins Inauguration im Fernsehen verfolgt?

Irina Prochorowa: Nein, ich habe seine „Krönung“ nicht im TV gesehen. Jetzt bin ich hier, in einer Woche muss ich sowieso wieder nach Moskau.

Hat die Opposition den Kampf vorerst verloren?

Wir wussten, dass Putin vermutlich wieder kommen würde. Es geht nun um den Aufbau einer Zivilgesellschaft. In den Nullerjahren hat Putin fast alle Institutionen – NGOs, ausländische Stiftungen – zerstört. Wir müssen diese Arbeit heute wieder neu beleben.

Sie setzen sich als Chefin der Michail-Prochorow-Stiftung für liberale Werte ein. Hat der Liberalismus eine Chance im heutigen Russland?

Ja, natürlich. Wenn man über Russland spricht, hat man oft das Bild von einem totalitären Staat im Kopf, was leider für die Sowjetperiode richtig war. Heute würde ich von einem semiautoritären System sprechen. Aber die russische Gesellschaft ist nicht monolithisch. An der Protestbewegung sind viele urbane, junge Menschen beteiligt. Viele vertreten liberale Werte – obwohl sie das selten so ausdrücken würden. Ihr Motto kann anders lauten, aber sie verfolgen Werte wie Unabhängigkeit oder Menschenwürde.

Was sehen Sie als Auslöser für die Proteste?

Auch wenn die 1990er in der öffentlichen Meinung diskreditiert sind, so waren es doch die besten, freiesten Jahre für kreative Ideen. Die Generation, die heute auf die Straße geht, waren damals Kinder. Sie waren freier als Kinder heutzutage, Putins Generation, die Stalin und die Sowjetunion hochleben lässt. Was wir heute sehen, ist eine neue Stufe der demokratischen Entwicklung: Heute reicht es den Menschen nicht mehr, nur mehr nicht hungrig zu sein. Sie wollen etwas tun – aber in Politik und Wirtschaft haben sie kaum Chancen. Die Gesellschaft sucht nach neuen Führern. Komischerweise gibt es nicht genug davon.

Ihr Bruder wollte so ein alternativer Anführer sein. Ist er gescheitert?

Nein. Er hatte nur zwei Monate Zeit für seine Kampagne und erreichte offiziell acht Prozent. Real waren es allerdings 15Prozent. Es gibt heute viele Menschen, die bereit sind, eine erfolgreiche Person zu unterstützen – auch wenn Reich-Sein in Russland normalerweise von Nachteil ist.

Manche sagten, er sei eine „Marionette“ des Kreml. Was sagen Sie dazu?

Das übliche Vorurteil. Die Leute glauben, dass niemand außer dem Kreml etwas tun kann. Mein Bruder aber gehört zu dem seltenen Typus des Mutigen, der diese Mauer durchbrechen kann. Er tut das seit 20 Jahren.

Was dachten Sie zu Beginn seiner Unternehmertätigkeit?

Wir waren stolz, hatten aber auch Angst um ihn. Er begann Ende der 80er-Jahre als Unternehmer. Es waren unsichere Zeiten. Aktivität wurde in der Sowjetunion stets bestraft.

Was wird Michail Prochorow weiter tun?

Er arbeitet an der Gründung seiner Partei. Die traditionellen Parteien scheinen für die aktuelle Situation nicht mehr zu passen – und so absurde Dinge wie die Piratenpartei haben plötzlich Erfolg.

Sie finden die Piraten absurd?

Sie sind ein interessantes Phänomen. Ich glaube aber nicht, dass die Piraten ernst zu nehmen sind, sie haben keine Ideen. Aber sie zeigen, dass wir eine neue Form von Regieren benötigen – auch in Russland.

Nervt es nicht, ständig als die „ältere Schwester“ von Michail Prochorow angesprochen zu werden?

Überhaupt nicht. Ich bin stolz auf ihn. Wir beide sind Profis in unserem jeweiligen Feld.

Wollen Sie womöglich selbst in die Politik gehen?

Wir werden sehen. Es wäre eine interessante Erfahrung, aber ich bin nicht sicher, ob ich bereit wäre, meine derzeitige Tätigkeit dafür zu opfern.

Zur Person

Irina Prochorowa leitet den Verlag New Literary Observer und ist Chefin der 2004 gegründeten Michail-Prochorow-Stiftung.

Heute, Dienstag, spricht sie um 18.30Uhr im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (9., Spittelauer Lände3) über den politischen Aufbruch in Russland: www.iwm.at. [Clemens Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2012)

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