Der Brexit: Eine herrliche Isolation oder ein Sprung von der Klippe?

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Das britische Imperium mit seinen vielen Kolonien war sich in manchen seiner Phasen selbst genug. Doch das erwies sich nie als ein Dauerzustand.

Wer die Briten derzeit verstehen will, sollte auf der Insel die Aufführung eines Königsdramas von William Shakespeare besuchen. Meist wird es da selbst für Menschen vom Kontinent geradezu unmöglich, sich dem allgemeinen Sog des Patriotismus zu entziehen. Zum Beispiel in „HenryV“. Der junge Herrscher schwört beim äußerst brutalen Feldzug gegen den damaligen Erbfeind Frankreich 1415 seine Truppen für den Kampf ein, erklärt sie alle zu Nationalhelden. Der Gegner bei Azincourt scheint drückend überlegen. Wenn Henry seine Leute als „We few, we happy few, we band of brothers“ adelt, geht dem exklusiven, glücklichen Bund britischer Brüder garantiert das Herz auf. Shakespeares raffinierte Ambiguität, die nicht nur siegreiche, sondern auch skrupellose oder schwache Herrscher zeigt, zählt in dem Moment nicht.

Großbritannien, eine steinalte, immer wieder gefährdete Zweckgemeinschaft, derzeit von Engländern, Schotten, Walisern und Nordiren (aber auch von Eroberern wie Römern, Sachsen, Wikingern und Normannen), macht es selbst den Liebhabern anglophiler Eigenarten nicht leicht, dieses einst große Imperium zu verstehen, das zwischen Phasen des Engagements für Europa und Sonderwegen schwankt. Was ist denn so schön an der Abkehr von der Europäischen Union, die derzeit in heftigster Form betrieben wird?

Nun, die Isolation hat sich zuweilen bewährt: Enthüllend ist die Lobrede in „Richard II.“: Ein kampfbereites, elitäres Reich wird als gekröntes Eiland, als zweiter Garten Eden, als Bollwerk der Natur verherrlicht: „Dieser Edelstein, gefasst in silberne See.“ Angelehnt an solche Metaphern ist der Begriff „splendid isolation“, den 1896 ein kanadischer Politiker geprägt hat. George E. Foster sah es als Vorteil an, dass „das große Mutterland“ in konfliktträchtigen Tagen „herrlich isoliert“ sei. Es galt damals als vernünftig, dauerhafte Allianzen zu scheuen, die Verpflichtungen gegenüber anderen Großmächten zu minimieren. Das Imperium mit seinen vielen Kolonien war sich selbst genug, ehe es bald danach, in den wirklich finsteren Zeiten zweier Weltkriege, wieder mit allen Mitteln in kontinentale Politik eingriff.

Die aktuelle Abkehr, vor Jahren ohne Not aus innenpolitischer Tollerei initiiert, ist anhaltend populär. Henrys Brandrede am Tag des heiligen Crispin tönt lauter als mahnende Stimmen, etwa die von John Major. Der konservative Ex-Premier hat jüngst in der „Sunday Times“ vor einem „No-Deal-Brexit“ gewarnt: „Wenn man von einer Klippe springt, hat das nie ein Happy Ending.“ Alle Haushalte in Großbritannien, ob reich oder arm, würden auf Jahre hinaus schlechter dastehen. Es sei vernünftig, mitten im Chaos einzuhalten und nachzudenken. Die Entscheidung über einen Ausstieg gehöre aufgeschoben. Major plädierte für ein zweites Referendum. So populär wie der Held eines Königsdramas wird er damit nicht werden.


Von @Scientists4EU wird dieser Beitrag des Elder Statesman im Finale dennoch eifrig gepostet. Aus rationalen Gründen scheinen viele Wissenschaftler die heftigsten Verfechter eines Verbleibs in der größeren Union zu sein, nicht nur wegen der Subventionen. Forscher mögen keine Grenzen, so wie viele Künstler. Brexit-Gegner sind AutorInnen wie Ian McEwan, John le Carré, J. K. Rowling und Hilary Mantel, der Popmusiker Elton John, Filmstars wie Benedict Cumberbatch und Keira Knightley. Hingegen ist Michael Caine für den Austritt. Und auch John Cleese. Er wolle nicht von einem Haufen europäischer Bürokraten regiert werden, meinte der Komödiant. Der alt gewordene Rockstar Roger Daltrey von The Who sieht das ähnlich.

Das Brexit-Drama hatte soeben wieder einen Cliffhanger. Wie geht es weiter? Und welches Stück sollte man sich bis Ende März noch ansehen, um diese Farce zu verstehen? Eine Komödie oder eine Tragödie? Wahrscheinlich ist es wieder Zeit für „King Lear“: Ein greiser Herrscher teilt sein Reich auf. Aus Hybris. Wer wird nun gegen wen kämpfen? Jeder gegen jeden. Am Ende heißt es dann bestimmt: „Den Druck dieser traurigen Zeit muss man nun tragen . . .“

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2019)

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