Leitartikel

Wenn Interessenvertreter vernünftiger sind als Volksvertreter

Beim Bundeskongress der Gewerkschaft hört man pragmatischere Töne als von einem sozialdemokratischen Kandidaten für das Kanzleramt.

Es war über Jahrzehnte ein gewerkschaftliches Dogma – ähnlich wie die jungfräuliche Geburt Christi für die katholische Kirche: ein Leitantrag beim Bundeskongress des ÖGB, in dem die Einführung einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich gefordert wird.

Beim diesjährigen 20. Kongress, der am Dienstag begann, wird man diese Zahl so vergeblich suchen wie das Wort „Leitantrag“. Die Gewerkschaft spricht jetzt nur noch von einem „Programm“ für die Jahre 2023 bis 2028 – und fordert auf diesen 150 Seiten ganz allgemein eine Verkürzung der Arbeitszeit „ohne Lohnverzicht“. Von einer 35- oder gar einer 32-Stunden-Woche ist keine Rede mehr.

Bemerkenswert, wenn eine Interessenvertretung pragmatischer ist als ein möglicher nächster Bundeskanzler, der sich gerade mit seinen überbordenden Koalitionsbedingungen und Ansagen in eine ziemlich unangenehme Situation bringt. Wie soll Andreas Babler nach der nächsten Nationalratswahl ohne massiven Vertrauensverlust eine Regierungsbeteiligung der SPÖ erklären, für die er auf jeden Fall Zugeständnisse bei seinen Zentralforderungen wird machen müssen (mit den Grünen allein wird sich keine Mehrheit ausgehen)? Die Hoffnung, dass die Menschen schnell vergessen, muss er sich in Zeiten, in denen jede Rede mit mindestens einem Handy gefilmt wird, nicht mehr machen. Und Twitter ist – vielleicht nicht bei Babler, aber auf jeden Fall bei anderen Politikern – gnadenlos.

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