Osteuropa/EU

Visegrád-Gruppe droht Zerfall

Das nächste Treffen der Regierungschefs der Visegrád-Gruppe - hier mit Orbán, Fiala, Ódor und Morawiecki - wird erst im Spätherbst stattfinden.
Das nächste Treffen der Regierungschefs der Visegrád-Gruppe - hier mit Orbán, Fiala, Ódor und Morawiecki - wird erst im Spätherbst stattfinden. Imago/Vaclav Salek
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Immer neue Konflikte brechen unter den vier Regierungen von Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei auf. Die gemeinsame inhaltliche Linie bröckelt.

Seit Monaten wachsen die Differenzen. Diplomaten berichten von Schreiduellen in Hinterzimmern, von heftigen, aber nie offen ausgetragenen Konflikten. Doch am vergangenen Wochenende ging Ungarns Ministerpräsident, Viktor Orbán, an die Öffentlichkeit. Bei einer Rede vor ungarnstämmigen Rumänen an der Balvanyos-Sommeruniversität attackierte er seinen tschechischen Amtskollegen Petr Fiala frontal. Die Visegrád-Länder hätten in der Vergangenheit versucht, den Vormarsch der Integrationisten (Orbán nennt sie „Föderalisten“) in der EU – allen voran Deutschland und Frankreich – zu stoppen. Die Gruppe hätte sich stets gemeinsam für einen Erhalt der nationalen Souveränität eingesetzt. Doch nun habe Tschechien, nachdem es von den Integrationisten bedrängt worden sei, die Seiten gewechselt, die Slowakei schwanke bereits, nur noch Polen und Ungarn hielten Kurs. Ministerpräsident Fiala reagierte prompt und sprach wenige Stunden danach von einer „absurden Stigmatisierung“ durch Orbán. Sein Land entscheide souverän, welchen Kurs es in der EU unterstützte und welchen nicht.

Grund für die aufgebrochenen Differenzen dürfte die Migrationspolitik der Europäischen Union sein, die von einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten nach mühsamen Verhandlungen mitgetragen wird. Beim vergangenen EU-Gipfel im Juni in Brüssel hatte Fiala bis tief in die Nacht versucht, auch seine Visegrád-Partner Polen und Ungarn, Mateusz Morawiecki und Viktor Orbán, ins Boot zu holen. Um ihnen den Deal schmackhaft zu machen, setzte er sich dafür ein, dass jene Länder finanziell unterstützt werden, die seit Beginn des Putin-Feldzugs gegen die Ukraine die Hauptlast der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zu tragen haben. Dazu gehören die vier Visegrád-Länder Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. 

Bei der Pressekonferenz nach dem Gipfel präsentierte sich Fiala verärgert: „Er hat den Stab über Morawiecki und Orbán gebrochen“, hieß es laut Augenzeugen aus seinem Umfeld. Und Fiala hat sich auch Tage danach noch nicht beruhigt. Als er in Prag den Vorsitzenden der in der Slowakei am­tierenden Expertenregierung, Ludovít Ódor, empfing, wiederholte er die Vorwürfe an Warschau und Budapest. Deren Nein sei seiner Auffassung nach „verantwortungslos“. Der EU-Asyl und Migrationspakt biete nämlich eine erste Lösungschance in der verfahrenen Migrations- und Asylpolitik.

Warschau und Prag auf Distanz

Tschechien hat gerade turnusgemäß den Vorsitz des Bündnisses übernommen. Doch nun setzt es alles daran, Visegrád „auf Sparflamme“ zu setzen. Das halbjährig vorgesehene Treffen der vier Regierungschefs hat Fiala erst für Spätherbst angesetzt. Der tschechische Regierungschef und ODS-Chef hat lang insbesondere zur polnischen Regierungspartei Pis gute Beziehungen gepflegt und die gemeinsame Linie betont. Doch heute begrüßt er längst nicht mehr alles, was die Parteifreunde in Warschau vertreten. Schon während seines EU-Vorsitzes ging seine Regierung auf Distanz zur polnischen Führung und äußerte Sorgen über deren Bestreben, den Rechtsstaat auszuhöhlen. Nur in einem Thema zog man weiterhin an einem Strang: bei der klaren Verurteilung des Ukraine-Feldzugs durch Wladimir Putin.

Insbesondere in dieser Frage bröckelt jedoch indessen die gemeinsame Linie zwischen Ungarn und dem Rest der Visegrád-Gruppe. Während Polen, Tschechien und die Slowakei bei jeder Gelegenheit zur Solidarität mit der Ukraine mahnen, sich in der Nato und der EU aktiv an der Unterstützung der Regierung in Kiew beteiligen, lässt Orbán nicht einmal militärisches Material durch sein Land in die Ukraine liefern. Ganz im Gegenteil: Bei seiner Rede in Rumänien am vergangenen Wochenende appellierte er, Russland nicht fallen zu lassen. Er, der einst als Oppositioneller die Abhängigkeit Ungarns von Energielieferungen aus Russland kritisiert hatte, verwies auf die große wirtschaftliche Bedeutung des langjährigen Partnerlandes. Noch kurz vor Kriegsbeginn hatte seine Regierung neue Lieferverträge mit Moskau abgeschlossen. Anders als die Visegrád-Partner versucht Budapest bei den zahlreichen Verhandlungsrunden in Brüssel auch die EU-Sanktionen gegen Russland abzuschwächen.

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