Analyse

Die „Seidenstraße“ des Westens

Narendra Modi (Mitte) versammelte die Gipfelteilnehmer zum Abschluss am Ehrenmal von Mahatma Gandhi.
Narendra Modi (Mitte) versammelte die Gipfelteilnehmer zum Abschluss am Ehrenmal von Mahatma Gandhi.APA / AFP
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Die USA überraschen auf dem G20-Gipfel mit einem Projekt, das China herausfordern soll. Über Verlierer und Gewinner des Treffens. Eine Bilanz.

Wien. Zwei Tage lang war Neu-Delhi der Nabel der Weltpolitik. Und Indiens Regie überließ dabei nichts dem Zufall. Schon Monate vor dem Gipfeltreffen hatten die Gastgeber begonnen, die Elendsviertel in der indischen Hauptstadt teilweise abzureißen. Mit der Planierraupe hübschten sie die Kulisse für das Treffen der 20 mächtigsten Industrie- und Schwellenländer auf. Auch in der Sache lief für die indische Präsidentschaft vieles nach Plan. Eine Bilanz des G20-Gipfels in vier Punkten.

Die Antwort der USA auf die Seidenstraße

In Neu-Delhi gab es einen großen Abwesenden (neben Wladimir Putin): Chinas Präsident, Xi Jinping, ließ sich nur vertreten, womöglich wegen der Rivalität mit Gastgeber Indien. Und in Abwesenheit Xis lancierten die USA in Neu-Delhi ein geopolitisches Projekt, das China herausfordern könnte. US-Präsident Joe Biden und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trugen dick auf und sprachen von einem neuen „historischen Wirtschaftskorridor“. Konkret geht es um eine direkte Verbindung zwischen Indien, dem Nahen Osten und Europa – mittels Schienenverkehr. Eine westliche Antwort auf Chinas Neue Seidenstraße sozusagen. Ein bemerkenswerter Aspekt des Projekts besteht darin, dass auch Israel und Saudiarabien an Bord sind. Die beiden Erzrivalen hatten sich allerdings schon zuletzt angenähert.

Das internationale Großprojekt sieht nicht nur eine Eisenbahnlinie, sondern auch Leitungen für Strom aus erneuerbaren Energien und Wasserstoff-Pipelines vor. Finanziert werden soll das Vorhaben unter anderem über die EU-Initiative Global Gateway. Sie sieht vor, in den nächsten Jahren bis zu 300 Milliarden Euro in die Infrastruktur von Schwellen- und Entwicklungsländern zu investieren. Experten zufolge handelt es sich dabei um eine der wichtigsten Initiativen Washingtons, um Chinas Einfluss im Nahen Osten einzudämmen.

Gastgeber Indien als ein Gewinner

Indien zählt zweifellos zu den Gewinnern des G20-Gipfels. Im Vorfeld bestand die ernsthafte Gefahr, dass das Treffen erstmals ohne gemeinsame Erklärung endet. Aber diesen Eklat wendete die Präsidentschaft ab. Stattdessen überraschte Indien gleich zu Beginn mit der Ankündigung, dass die G20 um die Afrikanische Union (AU) erweitert werden. Mit der EU ist eine weitere überregionale Organisation schon an Bord. Indiens Regierung nutzte das Gipfeltreffen auch, um ihre hindunationalistische Agenda voranzutreiben. Premier Narendra Modi war laut Tischkärtchen nicht mehr der Präsident von „India“, sondern von „Bharat“, ein altes Sanskrit-Wort für Indien, das auch in der Verfassung synonym verwendet wird, aber auf der internationalen Bühne nicht gebräuchlich ist. Für Modis Hindunationalisten ist das Wort „India“ als koloniales Erbe kontaminiert. Die Opposition indes empört sich an der schleichenden Umbenemnung und sieht darin Modis hindunationalistische Agenda.

Die G20 dürften übrigens ihren Namen behalten, obwohl sie bald 21 Mitglieder zählen. Zumindest war nie von den künftigen G21 die Rede.

Die Ukraine ist eine Verliererin des Gipfels

Die G20 haben als Plattform überlebt. Aber der Westen zahlte dafür einen diplomatischen Preis. Ein Wort fehlt nämlich in der Abschlusserklärung: Russland. Der Text achtet penibel darauf, Putins Staat nicht namentlich als Aggressor in der Ukraine zu benennen und zu verurteilen. Und während Modi am Sonntag seinen Gästen, darunter US-Präsident Joe Biden und Russlands Außenminister, Sergej Lawrow, einen Schal umlegte (ein indisches Begrüßungsritual) und sie zum Denkmal von Mahatma Gandhi führte, gewann in Europa die Debatte an Fahrt, ob es der Westen mit seinen Zugeständnissen übertrieben haben könnte.

Kiew jedenfalls reagierte empört. Auf Twitter (X) „korrigierte“ ein Sprecher des ukrainischen Außenministeriums den Text der Abschlusserklärung mit roter Farbe. Statt „Krieg in der Ukraine“ zum Beispiel müsste es „Krieg gegen die Ukraine“ heißen. „Es gibt nichts, worauf die G20 stolz sein können“, bilanzierte der Mann bitter.

Olaf Scholz indes redete die Zugeständnisse klein. Der deutsche Kanzler wertete den Gipfel wie die USA als Erfolg und würdigte eine Passage in der Abschlusserklärung, in der, allgemein, die „territoriale Integrität“ aller Länder betont wird. Auf dem Gipfel hatte Scholz übrigens Russlands Außenminister Lawrow konsequent geschnitten. Die beiden redeten kein Wort miteinander. Lawrow zog am Ende des Gipfels ein betont positives Fazit: Man habe die Versuche des Westens abgewehrt, „die Themensetzung des Gipfels zu ‚ukrainisieren‘“. Eine Gipfelerklärung wie ein Rorschach-Test: Jeder las darin etwas anderes.

Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, riet indes implizit davon ab, die Ukraine-Passagen auf die Goldwaage zu legen, denn die G20 seien ohnehin nicht das Format, um diplomatische Fortschritte zur Ukraine zu erwarten.

Die Rolle der Brics-Staaten

Mit Brasilien (und dann Südafrika) werden die G20 in den nächsten zwei Jahren von zwei weiteren Brics-Staaten geführt. Der Klub hat zuletzt an Gewicht gewonnen, leidet aber an inneren Konflikten. Auf dem G20-Gipfel soll laut „Financial Times“ allen voran Brics-Staat China auf die weichgespülte Gipfelerklärung insistiert haben. Der Westen nickte wiederum wohl auch aus strategischem Kalkül ab, also um zu verhindern, dass die Welt in Blöcke zerfällt.

Streitpunkte gibt es für die G20 auch künftig genug. So kündigte Brasiliens Präsident Lula am Sonntag an, er würde Putin nächstes Jahr als G20-Gast willkommen heißen. Trotz des bestehenden internationalen Haftbefehls: „Wenn ich Präsident bin und er nach Brasilien kommt, wird er auf keinen Fall festgenommen.“

Auf einen Blick

Am Sonntag ging in Neu-Dehli der G20-Gipfel zu Ende. Anders als 2022 wurde Russland nicht mehr explizit für den Krieg gegen die Ukraine verurteilt. Die USA und die EU überraschten mit einem Konkurrenzprojekt zur chinesischen Seidenstraße.

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