Ukraine: Die Verschwundenen von Kiew

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Im Zuge der Unruhen wurden zuletzt einige Aktivisten der Opposition verschleppt und gefoltert. Ob Janukowitschs Regime dahintersteckt, ist vorerst nicht bewiesen. Die Indizien jedoch sind stark.

Wien/Kiew. Am gestrigen Montag waren es fünf Tage, seit von Dmitri Bulatow jede Spur fehlt. Auch das Telefon gibt seit vier Tagen kein Signal mehr. Am 22. Jänner hat der 35-jährige Bulatow noch ein SMS an seine Familie geschickt. Zu einem nicht näher definierten Treffen war er aufgebrochen, wie Freunde danach berichteten. Bulatow habe schon länger von Drohungen gesprochen, die er über SMS oder Anrufe erhalten habe, erzählt der Anwalt seiner Frau, Dmitri Yovdi, der „Presse": „Wir neigen zur Ansicht, dass sein Verschwinden mit seinen politischen Aktivitäten der vergangenen zwei Monate zu tun hat."

Seit November organisierte Bulatow gemeinsam mit anderen Aktivisten den sogenannten Automaidan, jene Autokolonnen, die zur Unterstützung der proeuropäischen Demonstranten in Kiew gebildet werden, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch sich im November von Europa ab- und demonstrativ Moskau zugewandt hatte.

Auch Amnesty International und Human Rights Watch (HRW) schlagen Alarm. Bulatow ist nämlich nicht der erste Fall, der nach gezielten Entführungen aussieht. Einen Tag vor Bulatow verschwand Igor Luzenko, Mitorganisator der Demonstrationen und zuvor Leiter einer Denkmalschutzorganisation. Der 35-Jährige hatte seinen Bekannten, den 50-jährigen Aktivisten Juri Verbizki, wegen einer Augenverletzung ins Spital begleitet.



Wenige Minuten später waren dort sieben bis zehn Männer in Zivil aufgetaucht, hatten beide Aktivisten gefesselt und in einen Kleinbus gezerrt. Man machte in einer Garage halt, wo die beiden Männer geschlagen und verhört wurden. Danach ging es in den Wald. Das erzählte Luzenko selbst, nachdem er sich mit gebrochenen Zähnen, Hämatomen und offenen Wunden allein in die Stadt geschleppt hatte. Luzenko überlebte. Verbizki wurde mittlerweile mit Anzeichen von Folterungen tot im verschneiten Wald gefunden. Offizielle Todesursache: Unterkühlung.

„Es ist schwer zu sagen, ob die Entführungen systematisch stattfinden", sagt Rachel Denber, Ukraine-Verantwortliche von Human Rights Watch, auf Anfrage: „Drei bestätigte Fälle mag zahlenmäßig wenig aussehen. Aber bei allen dreien handelt es sich um Aktivisten. Alle drei Fälle sind extrem und fanden binnen einer Woche statt." Auf der Facebook-Seite der Bürgerinitiative „Euromaidan-SOS" sind 27 Personen aufgelistet, die am 16. Jänner verschwunden sind oder als vermisst gelten.
Sie gehen mit der ohnehin gewaltreichen Konfrontation zwischen Opposition und Regierung einher. Inwiefern Verschleppungen auch in den Provinzstädten stattfinden, wo ähnliche Berichte auftauchen, ließ sich bisher nicht verifizieren.

Janukowitsch nimmt Gesetze zurück

Die Lage in der Ukraine bleibt chaotisch. Hatten radikale Teile der Opposition das Justizministerium seit Sonntag besetzt gehalten, so haben sie das Ministerium - auch auf Anraten von Oppositionsführer Witali Klitschko - wieder freigegeben und nur noch von außen verbarrikadiert. Damit ist die angedrohte Verhängung des Ausnahmezustands erst einmal vom Tisch, zumal ohnehin fraglich war, ob Janukowitsch dafür ausreichend Stimmen im Parlament erhalten hätte.

Eine gewisse Weichenstellung könnte am Dienstag bei der Sondersitzung des Parlaments erfolgen. Aus der Präsidialkanzlei verlautete, dass die Mitte Jänner verabschiedeten repressiven Gesetze nicht legitim seien und rückgängig gemacht werden sollten. Das allein wird für eine Entspannung nicht reichen. Die Opposition besteht auf Neuwahlen. Zuletzt hat sie das Angebot, den Premiers- und Vizepremiersposten zu übernehmen, abgelehnt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2014)

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