Was hat Architektur mit Sorgearbeit zu tun? Und wie hängt das mit dem Wiener Brunnenmarkt zusammen? Mit Architektin und SOHO-in-Ottakring-Künstlerin Hannah Mucha am längsten Detailmarkt Europas.
Etwas verschlafen gibt sich der Brunnenmarkt im 16. Wiener Bezirk an diesem von Regenschauern begleiteten Freitagvormittag in den Herbstferien. Nur wenige Besucher sind unterwegs, Marktstandler stehen beisammen und plaudern. Jährlich kommen rund 85.000 Menschen auf den Brunnenmarkt. Hannah Mucha mag „die ansonsten hier herrschende lebensfrohe, laute Art“. Die Architektin lebt seit zwei Jahren in einem Altbau in der Gaullachergasse, also fußläufig zum längsten Straßen-Detailmarkt Europas mit 170 Marktständen auf 948 Metern. Der „Orient ums Eck“ genannte Markt erinnert sie an ihre Studienzeit in Istanbul.


Bereits 1786 fand hier ein erster Markt statt. Damals ließ Kaiser Joseph II. an der Kreuzung zur Neulerchenfelder Straße einen Brunnen errichten. Heute ist der Brunnenmarkt „nicht so teuer wie andere Märkte, sondern hat einen guten Mix - auch mit dem Bauernmarkt am Yppenplatz am Samstag“, findet Mucha.
Ornament und Versorgung
In ihrer Diplomarbeit widmete sich die Architektin und ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin dem Thema „Architektur und Sorgearbeit“. Dieses greift sie auch bei ihrer Kunstinstallation für die SOHO-Ausstellung: Architekturschaffende konnten in der Gründerzeit die Ornamente der Stadtbild prägenden Fassaden aus den Katalogen der Firma Wienerberger bestellen, und orientierten sich dabei stark an der damaligen Logik, „nach der das dekorative Ornament weiblich konnotiert ist, die architektonische Struktur hingegen männlich“, erklärt Mucha. Das galt nicht nur für das Bauen, auch in der bürgerlichen Gesellschaft etwa galt so manche Dame als „Ornament“. Eigenschaften wie Eleganz, Bescheidenheit, Fürsorglichkeit und Verzicht waren gerne gesehen. Und sind es immer noch: „Sorgearbeit wird in unserer Gesellschaft immer noch vor allem von weiblichen oder weiblich gelesenen Personen geleistet und unsichtbar gemacht, stellt aber das Fundament unserer Gesellschaft dar“, sagt Mucha.. In ihrer Installation möchte die Architektin das Innen und Außen verweben, Binaritäten aufheben und Sorgearbeit sichtbar machen.


» Ich liebe diese Layer der Zeit, die die Schichten einer Stadt zeigen.“«
Hanna MuchaArchitektin, Künstlerin, gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin
Ornamente gibt es auch in der Brunnengasse zu sehen, zum Beispiel auf der gelben Fassade der Nummer 49, an der ein „Café Konditorei“-Schild an alte Zeiten erinnert. Nun beherbergt es einen Supermarkt für orientalische Lebensmittel. Mucha ist ein Fan von diesen „Layer der Zeit, die die Schichten einer Stadt zeigen“. Gleich vis-a-vis hängt eine Gedenktafel für das ehemalige Großkaufhaus Dichter, das 1890 vom jüdischen Großvater von Walter Arlen in der Brunnengasse 40 errichtet wurde. 1938 wurde es von den Nazis arisiert; Arlen gelang die Flucht in die USA. Vor fünfzehn Jahren initiierte der Verein Grundstein/Masc Foundation für den bekannten Musikkritiker und Komponisten drei Säulen der Erinnerung am Yppenplatz (Ecke Payergasse). Arlen verstarb übrigens erst im September im stolzen Alter von 103 Jahren.


Überquert man die Grundsteingasse, steht man vor dem ehemaligen Gasthaus „Zur roten Bretzn“, in dem ab den 1830er-Jahren Volkssänger auftraten. Vor hundert Jahren war dann im Saal das Kino Alt-Wien untergebracht. Nur 170 Meter stadteinwärts stößt man in der Grundsteingasse 6 auf jene Stelle, an der der - für die Gasse namensgebende - Grundstein für das erste Haus im Vorort Neulerchenfeld gelegt worden sein soll.

Klima-Boulevard
Mucha ist froh, dass das Grätzel verkehrsberuhigt ist. Seitdem die Thaliastraße zum „Klima-Boulevard“ umgestaltet wurde, ist es für Fußgänger angenehmer: „Wobei es noch immer ein sehr autozentrierter Raum und eine Durchzugsstraße ist“, merkt die Architektin an. Aber: „Es gibt mehr Aufenthaltsräume im öffentlichen Raum. Jede Bank, die hier steht, wird genutzt und diese Lebendigkeit macht das Viertel für mich aus.“ In der Thaliastraße schätzt die gebürtige Münchnerin die vielen kleinen Spezialgeschäfte wie das „Knopfgeschäft“ auf Nummer 24 oder das Farbengeschäft Kubelka auf Nummer 49, in dem sie ihren Künstlerbedarf deckt. Auf ihrem Heimweg spaziert Hanna Mucha noch an einem Tröpferlbad vorbei: Das städtische Volksbad in der Friedrich-Kaiser-Gasse 11 ist das letzte ausschließliche Brausebad Wiens. Ein Wannenbad kostet 4,70 Euro. Ein Relikt aus Zeiten, in denen ein Wasseranschluss in der Wohnung noch keine Selbstverständlichkeit war und auch bis heute nicht überall ist.

Zum Ort, zur Person
Das Gebiet zwischen Lerchenfelder Gürtel, Veronikagasse, Ottakringer Straße, Hubergasse, Kirchstetterngasse und Thaliastraße wurde in den letzten Jahren stark aufgewertet. Wohnungen kosten durchschnittlich 3.950 (gebraucht) bis 5.650 (neu) Euro/m2 .
Hannah Mucha ist eine der neun teilnehmenden Künstler bei der SoHo in Ottakring-Ausstellung „Der Tanz um die Sorge“ . Sie läuft bis 10. Dezember im Sandleitenhof.
Tipp: Stadtspaziergänge mit Mucha – am 18. und 19. November, jeweils um 14 Uhr. www.sohostudios.at