Exkurs: Taiwans Militärdiktatur

Die schmerzvollen Wunden des „Weißen Terrors“: Inhaftiert in Chiang Kai-sheks Foltergefängnis

Chiang Kai-shek Memorial in Taipeh.
Chiang Kai-shek Memorial in Taipeh. AP/ Wally Santana
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Die Taiwaner haben hart gekämpft für ihre junge Demokratie. Heute verarbeitet die Inselrepublik die dunkle Vergangenheit der jahrzehntelangen Militärdiktatur, doch die Wunden schmerzen noch: Der gebürtige Malaysier Fred Chin Him-san schildert die Grausamkeiten des „Weißen Terrors“, die er lange Jahre erleiden musste.

Taiwan ist heute eine der am höchsten entwickelten Demokratien der Welt: Im angesehenen Demokratie-Ranking des Magazins „Economist“ schneidet die Inselrepublik in Asien am besten ab, weltweit rangiert sie auf Platz zehn unter 167 Ländern (Österreich liegt auf Platz 20). Für ihre Freiheit haben die Bewohner der Insel große Opfer gebracht. Denn ihre Demokratie ist jung. Erst 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben, das „Generalissimo“ Chiang Kai-shek 1949 verhängt hatte.

Damals hatte seine Nationalpartei (Kuomintang) den chinesischen Bürgerkrieg gegen Mao Zedongs Kommunisten verloren, die Elite und Soldaten der Kuomintang hatten sich mit Chiang Kai-shek auf die Insel Taiwan zurückgezogen. Die ehemalige japanische Kolonie war nach dem Zweiten Weltkrieg der „Republik China“ übergeben worden. Chiang Kai-shek, der von den USA unterstützt wurde, sah sich als deren Vertreter, als Anführer des  „freien Chinas“. Doch intern herrschte der General mit eiserner Faust. Erst ließ er Proteste der taiwanesischen Elite brutal unterdrücken, die gegen Plünderungen der Kuomintang-Soldaten demonstrierten. Nach Verhängung des Kriegsrechts wurden dann alle Kritiker systematisch verfolgt.

Gefoltert wegen eines „Missverständnisses“

Diese Ära des „Weißen Terrors“ wird heute in Taiwan intensiv aufgearbeitet und sorgt für heftige Diskussionen. So wird unter anderem darüber gestritten, ob die massive Chiang-Kai-shek-Statue weiterhin das Zentrum der Hauptstadt Taipeh dominieren oder abgebaut werden sollte.

Taipei,  Chiang Kai-shek Memorial
Taipei, Chiang Kai-shek MemorialTim Thompson

Doch der Ort, der die Wunden des Weißen Terrors besonders schmerzvoll offenlegt, ist das ehemalige Jingmei Militärgefängnis, heute eine Gedenkstätte und ein Museum. In diesem Gebäude wurden die Opfer des Kuomintang-Regimes prozessiert und dann eingesperrt. Viele waren politische Gegner. Aber nicht alle. Fred Chin Him-san etwa landete hier wegen eines grausamen Missverständnisses.

Heute ist der Mann 74 Jahre alt. Er ist zurückgekehrt nach Jingmei.  „Ich will meine Geschichte erzählen. Damit die jungen Menschen wissen, wie wertvoll ihre Demokratie ist, wie wenig selbstverständlich sie ist“, sagt er. Der Mann steht im berüchtigten Prozess-Saal des ehemaligen Gefängnisses, vor einem hohen Pult. Dort stand er auch vor mehr als 40 Jahren und wartete auf das Urteil des Richters.  

Fred Chin Him-san im Prozesssaal in Jingmei
Fred Chin Him-san im Prozesssaal in JingmeiSusanna Bastaroli

Sie forderten ein „schriftliches Geständnis“

Fred erzählt. Der gebürtige Malaysier zog mit 18 Jahren nach Taiwan, um an der Cheng Kung University in Tainan Chemietechnik zu studieren. Am 3. März 1971, in seinem dritten Studienjahr, befand er sich gerade auf dem Heimweg, als ihn ein Mann stoppte. Ein Verwandter aus Malaysia sei in Taipeh und wolle ihn sehen, sagte der. Der Verwandte könne aber nicht nach Tainan kommen. Der Mann könne Fred mit dem Auto in die Hauptstadt zu seinem Angehörigen fahren. Fred hegte keinen Verdacht, vertraute dem Mann. Doch „dieser Tag veränderte mein Leben für immer.“

» Härter. Immer härter wurden die Schläge. Ich wollte, dass sie aufhörten.«

Fred Chin Him-san

In Taipeh wurde der junge Mann in ein Haus gebracht. Am Tag darauf kamen drei Männer, die von ihm ein „schriftliches Geständnis“ forderten. Fred wusste nicht, was sie meinten, was genau er gestehen sollte. Er fragte die Männer, sie die schlugen auf ihn ein. „Härter. Immer härter wurden die Schläge. Ich wollte, dass sie aufhörten, bat sie, mir zu sagen, was ich aufschreiben sollte. Aber sie hörten nicht auf.“ Am dritten Tag erschien ein anderer Mann. Der sagte, Fred habe eine Bombe in eine Bank und eine zweite Bombe in eine amerikanische Nachrichtenagentur gelegt. „Und der befahl mir: Schreibe auf, wie du das getan hast.“

Nädel unter Fingernägel und drei Selbstmordversuche

Er habe irgendeine Geschichte erfunden, schildert Fred. „Doch sie waren immer noch nicht zufrieden.“ Sie brachten ihn nach Jingmei, folterten ihn weiter, stachen mit spitzen Nadeln in die Haut unter den Fingernägeln, hängten ihn an den Füßen auf. Dreimal versuchte er, sich das Leben zu nehmen. Er rannte gegen eine Glastür, trank Chemikalien, versuchte, sich zu erhängen. Er überlebte, wurde weiter geschlagen. „Ich wollte nur noch sterben, ich bettelte um die Todesstrafe“.

Doch dann erschien plötzlich ein anderer Mann. Er erklärte ihm, jemand anderes habe nun die Bombenattentate gestanden. Er dürfte bald zurück an seine Uni.

„Aber das geschah natürlich nicht. Ich wurde in eine andere Abteilung verlegt. Und wieder wurde ich geschlagen. Sie wollten jetzt ein neues Geständnis: Ich sei in Malaysia Kommunist gewesen und man habe mich nach Taiwan geschickt, um die Regierung zu stürzen, behaupteten sie.“ Fred war nie Kommunist gewesen, das ergaben später auch unabhängige Ermittlungen in Malaysia. Aber inzwischen hatte er verstanden: Er war der Willkür seiner Schergen ausgeliefert. Sie würden niemals zugeben, einen Fehler begangen zu haben. Er schrieb und unterzeichnete das Geständnis.   

Zwölf Jahre Haft

Der Militärrichter in Jingmei verurteilte Fred wegen „Konspiration“ zu zwölf Jahren Haft. Niemand verteidigte ihn während des Prozesses, er war allein. Sein Fall war keine Ausnahme: Ein Großteil der Verurteilungen damals basierten auf ähnlichen „Fehleinschätzungen“.

Noch ein Jahr verbrachte Fred in Jingmei, dann wurde er auf die berüchtigte Gefängnisinsel Green Island verlegt. „Es waren schreckliche, traurige Jahre. Die Zeit verging so langsam. Aber da war dieser Hund, es war das erste freundliche Wesen, das mir nach langer Zeit begegnete. Er kuschelte sich an mich, wenn mir die Tränen übers Gesicht liefen, spürte, wenn ich verzweifelt war. Ich werde ihn nie vergessen. Ich bin ihm so dankbar.“

»Ich konnte Taiwan nicht vergessen.«

Fred Chin

1983 wurde Fred entlassen. Zwei Jahre später erhielt er die taiwanesische Staatsbürgerschaft. Er fand einen Job, obwohl die Arbeitssuche nach der langen Gefangenschaft nicht einfach war, niemand wollte ihn anstellen. „Es waren sehr schwierige Zeiten“, erinnert er sich heute. 1988 kehrte er nach Malaysia zurück, man nahm ihn gut auf dort, gab ihm seinen Pass zurück, bot ihm an, zu bleiben.  Er hätte auch Asyl in Deutschland, in Norwegen erhalten. Aber er wollte nicht. „Ich konnte Taiwan nicht vergessen.“

Eine noch bessere Demokratie

Er beschloss, auf die Insel zurückzukehren, die wirtschaftlich boomte und sich politisch öffnete. Er wollte seine Geschichte erzählen. „Zunächst hörte niemand zu“, sagt er. „Aber das ist jetzt zum Glück anders.“ Heute arbeitet Fred als Freiwilliger im Museum in Jingmei, erzählt jungen und älteren Menschen, was er erlebt hat. Viele Schulklassen kommen, aber auch viele ältere Taiwaner. Auch ein Buch über sein Leben hat er veröffentlicht.

„Ich bin Taiwaner und bin stolz darauf. Ich lebe gerne hier“, sagt er. Es mache ihn glücklich, dass er einen Beitrag leisten könne, um sein Land in eine noch bessere Demokratie zu verwandeln, indem er Taiwan helfe, mit seiner dunklen Vergangenheit abzurechnen.  

Wenn Fred über die Invasionspläne des autoritären Chinas spricht, hat er eine ganz klare Meinung: „Wir wollen Frieden. Aber wir wollen und müssen unabhängig sein. Denn wir sind bereits ein selbstständiger Staat“, sagt er.

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