Arktisches Straflager

„Mörderisches Regime“: Russischer Oppositionsführer Alexej Nawalny ist tot

Alexej Nawalny während einer Anhörung vor dem Basmanny-Bezirksgericht in Moskau, Russland am 26. April 2023.
Alexej Nawalny während einer Anhörung vor dem Basmanny-Bezirksgericht in Moskau, Russland am 26. April 2023.Reuters / Yulia Morozova
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Der 47-jährige Korruptionsbekämpfer soll nach einem Gefängnisspaziergang im Ural zusammengebrochen und gestorben sein, meldet die russische Strafvollzugsbehörde Fsin. Aus dem Ausland kommen Mordvorwürfe gegen den Kreml, Bundespräsident Alexander Van der Bellen spricht von Putins „mörderischem Regime“.

Moskau. Alexej Nawalny ist — vermutlich — tot. Der russische Oppositionspolitiker sei in seiner Strafkolonie in der Arktisregion des nördlichen Uralgebirges verstorben. Das meldete am Freitag die russische Justizvollzugsbehörde Fsin.

„In der Strafkolonie Nummer 3 fühlte sich der Verurteilte Nawalny A. A. (Alexej Anatoljewitsch, Anm.) nach dem Spaziergang schlecht und verlor praktisch sofort das Bewusstsein“, heißt es in einer lapidaren Meldung der Behörde. Die alarmierten Ärzte hätten es nicht geschafft, den Häftling wiederzubeleben. Nawalnys Pressesprecherin sagte indes, dass sie den Tod vorerst nicht bestätigen könne. Der Anwalt des Oppositionsführers sei allerdings auf dem Weg zum Gefängnis bei der Ortschaft Charp, etwa 1900 Kilometer nordöstlich von Moskau.

Der 47-Jährige aus dem Raum Moskau war erst Ende des Vorjahrs von einem Gefängnis im Großraum von Moskau in diese extrem abgelegene Strafkolonie überstellt worden. Er klagte mehrfach über die unmenschliche Behandlung im Gefängnis. Auch medizinische Behandlung wurde ihm verweigert. Nawalny musste die meiste Zeit in Einzelhaft verbringen.

Aus dem Kreml hieß es, man habe „keine Information über die Todesursache“. Es würden aber alle erforderlichen Untersuchungen durchgeführt. Kreml-Chef Wladimir Putin sei vom Tode seines Widersachers in Kenntnis gesetzt worden. Erst diese Woche hatte es Berichte gegeben, dass Nawalny bereits zum 27. Mal für eine Dauer von 15 Tage in Einzelhaft gebracht worden sei.

Im August 2020 wurde Nawalny während einer Wahlkampfreise durch Russland mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet; hinter der Attacke wird der russische Geheimdienst vermutet. Nach einer medizinischen Behandlung in Deutschland kehrte er trotz aller Risken nach Russland zurück und wurde dort sogleich festgenommen. In mehreren Prozessen wurde er zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

Erst im vergangenen Dezember war der als politischer Gefangener eingestufte Politiker über mehrere Wochen verschwunden. Im Nachhinein erwies sich, dass die Justiz ihn aus dem europäischen Teil Russlands in besagtes Straflager verlegt hatte. Nawalny vermutete, dass er dort vor der Präsidentenwahl im März möglichst isoliert werden solle.

Charp im nördlichen Ural (Archivbild von 2008). In dem Nest mit nur wenigen Tausend Einwohnern im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen gibt es neben der Strafkolonie „Polarwolf“ ein Bergwerk für Chromgestein und ein Zementwerk. Eine Straßen- und Zugverbindung besteht in eine rund 40 km entfernte Kleinstadt, dort ist auch ein Flughafen.
Charp im nördlichen Ural (Archivbild von 2008). In dem Nest mit nur wenigen Tausend Einwohnern im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen gibt es neben der Strafkolonie „Polarwolf“ ein Bergwerk für Chromgestein und ein Zementwerk. Eine Straßen- und Zugverbindung besteht in eine rund 40 km entfernte Kleinstadt, dort ist auch ein Flughafen.ValeryZatolochny/CC BY 3.0

Mordvorwürfe von Van der Bellen, Kogler gegen Putin

Eine der ersten Reaktionen kam aus Österreich. Außenminister Alexander Schallenberg schrieb in einer Medienbotschaft: „Russland verliert mit Alexei Nawalny eine furchtlose und mutige Stimme im Kampf gegen die Korruption und einen Verfechter eines offeneren und demokratischeren Russlands. Sein Tod so kurz vor den Wahlen (die Präsidentenwahl im März, Anm.) erinnert uns einmal mehr daran, wie unfrei und undemokratisch Russland unter der Führung Putins ist. Ich fordere eine vollumfängliche, unabhängige Untersuchung der Umstände seines Todes.“

Griffiger formulierten es später Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne): „Wladimir Putin und sein mörderisches Regime sind dafür verantwortlich“, schrieb Van der Bellen auf X. Kogler forderte eine internationale Untersuchung der Todesumstände und schrieb: „Nach der Ermordung zahlreicher Kritiker nimmt das verbrecherische Putin-Regime dem wichtigsten Oppositionsführer das Leben“.

In Berlin nannte Bundeskanzler Olaf Scholz den Tod Nawalnys „bedrückend“. Dass er einst zurück nach Russland gegangen sei, sei sehr mutig gewesen. Nun habe er diesen Mut „mit dem Leben bezahlt“. Man wisse jetzt genau, was in Moskau für ein Regime regiere. Russland sei „längst keine Demokratie mehr“. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij, der gerade zu Gast bei Scholz in Berlin war, sagte, dass es offensichtlich sei, wer Nawalny getötet habe: nämlich Russlands Präsident Wladimir Putin. Diesem sei gleichgültig, wenn jemand sterbe. es gehe ihm nur um den Machterhalt.

Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel lastet den Tod Nawalnys dem russischen Staat an. „Er wurde Opfer der repressiven Staatsgewalt Russlands. Es ist furchtbar, dass mit ihm eine mutige, unerschrockene und sich für sein Land einsetzende Stimme mit fürchterlichen Methoden zum Verstummen gebracht wurde“, erklärte die CDU-Politikerin am Freitag in Berlin.

„Putin ist verantwortlich“

US-Präsident Joe Biden hat Kremlchef Wladimir Putin für den Tod des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny verantwortlich gemacht. Man wisse zwar nicht genau, was passiert sei, aber es gebe keinen Zweifel daran, dass der Tod Nawalnys eine Folge von Putins Handeln und dem seiner Verbrecher sei, sagte Biden am Freitag im Weißen Haus. „Putin ist verantwortlich.“ Auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris sagte am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, dass Russland verantwortlich für die Causa sei.

Biden sagte weiter, er sei angesichts der Nachricht von Nawalnys Tod schockiert, aber nicht überrascht. Putin habe Nawalny vergiftet, ihn verhaften und wegen erfundener Verbrechen anklagen lassen, sagte der US-Präsident. Er habe ihn in Isolationshaft gesteckt. Doch all das habe Nawalny nicht davon abgehalten, Lügen anzuprangern, sogar im Gefängnis. „Er war eine mächtige Stimme für die Wahrheit.“ Biden fügte hinzu: „Er hätte sicher im Exil leben können nach dem Attentat auf ihn 2020, das ihn fast umgebracht hätte.“ Doch Nawalny habe „so sehr“ an sein Land geglaubt. Biden sagte außerdem, er habe keinen Grund zu glauben, dass die Berichte der russischen Behörden über Nawalnys Tod nicht zutreffend seien.

„Er wurde vom Kreml brutal ermordet“

„Alexej Nawalny hat für die Werte der Freiheit und der Demokratie gekämpft“, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel auf X. „Die EU macht das russische Regime allein für diesen tragischen Tod verantwortlich.“ Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte eine Aufklärung der Todesumstände. Der britische Premierminister, Rishi Sunak, rühmte Nawalnys „lebenslangen Mut“.

Der französische Außenminister, Stéphane Sejourne, attackierte Putin, indem er erklärte, dass Nawalnys Tod von der „ Realität des Regimes von Wladimir Putin“ künde“. Noch direkter drückte es der Präsident Lettlands, Edgars Rinkevics, aus: „Was auch immer Sie über Alexej Nawalny als Politiker denken, er wurde einfach vom Kreml brutal ermordet. Das ist eine Tatsache und etwas, das man über die wahre Natur des gegenwärtigen russischen Regimes wissen sollte.“

Der polnische Außenminister, Radoslaw Sikorski, würdigte den Verstorbenen als „Held und Symbol für alle russischen Demokraten“. Für seinen Tod sei Putin verantwortlich. In Russland wiederum sagte der demokratische Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin, Nawalny sei „einer der talentiertesten und mutigsten Menschen Russlands“. Er hoffe, dass sich die Informationen über seinen Tod doch noch als unwahr erweisen würden.

Nadeschdin kritisiert offen den Krieg Russlands gegen die Ukraine und wollte bei der Präsidentenwahl im März antreten. Dies verwehrte ihm kürzlich die Wahlkommission wegen angeblich gefälschter Unterstützungserklärungen.

„Westliche Vorwürfe selbstentlarvend“

Das russische Außenministerium hat die Anschuldigungen zum Tod Nawalnys unterdessen als „selbstentlarvend“ kritisiert. Obwohl die gerichtsmedizinischen Ergebnisse noch nicht vorlägen, habe der Westen bereits seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen, schrieb die kantige Außenamtssprecherin Maria Sacharowa auf X. Was sie genau meinte, erklärte sie zunächst nicht, es dürfte sich um die indirekten Mordvorwürfe auch an Putin handeln. (red./wg/ag.)

Zur Person

Alexei Anatoljewitsch Nawalny wurde am 4. Juni 1976 in Butyn im Raum Moskau geboren, sein Vater war in der Ukraine aufgewachsen. Nawalny studierte Jus und Finanzwissenschaften und war ab 1998 als Jurist unter anderem für Unternehmen tätig. 2009 wurde er als Anwalt eingetragen, 2010 verbrachte er einige Monate bei Lehrgängen in den USA.

In den 2000er-Jahren war er zeitweise in der neuen demokratischen Partei Jabloko tätig und engagierte sich immer mehr im Bereich Korruptionsaufklärung. Dabei deckte er eine Reihe von Korruptionsfällen in Wirtschaft und Verwaltung auf, machte sich folglich bei den Mächtigen unbeliebt und stand bald selbst als Angeklagter wegen mutmaßlicher Korruption da. 2013 verlor er deshalb seine Anwaltszulassung.

Letztlich wechselte Nawalny ganz in die Politik, war an der Gründung von Parteien beteiligt und nahm die Rolle des Korruptionsjägers ein. Bei der Moskauer Bürgermeisterwahl 2013 errang er abgeschlagen Platz zwei. 2016 zeigte er Präsident Wladimir Putin wegen Korruption an; es ging um Malversationen seines Schwiegersohns mit einer Staatsfirma, doch nahm das Gericht die Klage nicht an. Umgekehrt wurde er selbst wegen Korruption und Betruges angeklagt und mehrfach verurteilt.

Die Kandidatur Nawalnys zur Präsidentenwahl 2018, die er 2016 ankündigte, geriet zu einer Schlacht mit den Behörden, der Polizei und Justiz, er wurde mehrfach festgenommen und es gab Anschläge mit Farbbeuteln auf ihn. Im Dezember 2017 schloss ihn die Wahlbehörde von der Kandidatur aus, seine politische Tätigkeit sowie die seiner Bewegung bzw. Stiftung wurde nach Kräften erschwert.

Nach einem Anschlag mit dem „Supergift“ Nowitschok auf ihn im August 2020 (die Symptome begannen während eines Fluges von Tomsk (Sibirien) nach Moskau) kam er zur Behandlung nach Berlin, gesundete und reiste trotz aller Warnungen im Jänner 2021 zurück nach Moskau, wo man ihn sogleich festnahm. In einer Serie von politisch motivierten Verfahren wurde wegen mehreren Anschuldigungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und entkam der Mühle nicht mehr. Die Justiz verbot mehrere seiner Organisationen und löste sie wegen „Extremismus“ auf, vor allem die Anti-Korruptions-Stiftung FBK. Er kam nacheinander in zwei Straflager im Großraum Moskau, wo er von Misshandlungen, Schikanen und Schlafentzug sprach und zeitweise im Hungerstreik war. Seine Gesundheit verschlechterte sich. Dezember 2023 verschwand er aus dem Gefängnis von Melechowo und tauchte im berüchtigten Straflager Charp im nördlichen Ural auf. Dort soll er nun also gestorben sein.

Im Westen wurde Nawalny trotz aller auch medialen Verehrung nicht ganz kritikfrei gesehen. Mehrfach wurde etwa auf stark nationalistische Äußerungen bis hin zu solchen am Rande des Rassismus hingewiesen, wobei er vor allem auf Menschen aus der Kaukasusregion und solche mit Turk-Abstammung abzielte. Zeitweise kooperierte er mit rechtsextremen Gruppen. Positionen wie solche, wonach die illegale Immigration aus Zentralasien eines der größten Problem Russlands sei, werden heute freilich im Westen aufgrund offenkundig geänderter Umstände nicht mehr so kritisch gesehen wie noch vor einem Jahrzehnt.

Weitere Informationen folgen.

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