Leitartikel

Die Sinnkrise ist das größte Problem für den Standort Europa

Die USA ziehen Europa im Eiltempo davon. Das Ziel, dass die EU der wett­bewerbsfähigste Wirtschaftsraum werden soll, scheint Geschichte zu sein.

Österreicher erleben in den USA mitunter einen Kulturschock, und damit sind nicht die ausufernd eingesetzten Klimaanlagen gemeint. Sondern die erfrischende Angewohnheit der Amerikaner, auch Fremde mit überschwänglicher Freundlichkeit zu behandeln. Aber ist das nicht aufgesetzt, oberflächlich, fake? Da bevorzugen viele den Wiener Grant – der ist wenigstens echt.

Aber auch Küchenpsychologen wissen: Es gibt einen nachweislichen Zusammenhang zwischen Freundlichkeit und Zuversicht, zwischen Lachen und Optimismus. Wer seiner Umwelt mit Offenheit begegnet, hat es leichter im Leben, glaubt eher an das Gute und daran, dass die Zukunft besser sein kann als die Gegenwart.

So gesehen dürfte auch sehr viel Psychologie im Spiel sein bei dem andauernden Wirtschaftsboom, den die USA gerade hinlegen. Monat für Monat prophezeien Experten der größten Volkswirtschaft der Welt eine Rezession, aber sie tritt nicht ein. Die USA ziehen Europa im Eiltempo davon: Laut der Industrieländerorganisation OECD wächst die US-Wirtschaft heuer um 2,1, die der Eurozone lediglich um 0,6 Prozent, voriges Jahr war das Verhältnis ähnlich. Deutschland, einst die Konjunkturlokomotive Europas, dürfte heuer überhaupt nur 0,3 Prozent schaffen – und falls diese Prognose nach unten korrigiert wird, wäre das nicht das erste Mal.

Auf lange Sicht wird die Diskrepanz noch deutlicher: Binnen 15 Jahren ist die US-Wirtschaft auf Dollarbasis um 82 Prozent gewachsen, die der Eurozone um nur sechs Prozent, zitierte das „Wall Street Journal“ im Vorjahr IWF-Daten. Europa bleibt zurück. Was ist da los? Dafür gibt es mehrere Gründe, hier ein Auszug:

Künstliche Intelligenz. Der spektakuläre Börsenboom des Chipentwicklers Nvidia hat wieder einmal gezeigt, wo in der KI die Musik spielt: in den USA. Der Aufschwung zieht Wirtschaft und US-Börsen nach oben und mit ihnen die Finanzplätze rund um die Welt. Die größten Tech-Konzerne sitzen jenseits des Atlantiks. Microsoft, Apple und Amazon sind nur drei davon. Und der Gründergeist in den USA lebt. Laut dem Global Entrepreneurship Monitor waren zuletzt 15 Prozent der Erwachsenen in den USA gründerisch tätig, fast doppelt so viele wie in Deutschland.

Europa investiert nicht genug in Forschung und Exzellenz. Seit 2018 stieg die Zahl der US-Firmen unter den 500 Unternehmen mit den größten Forschungsbudgets von 140 auf 164, der Anteil Europas schrumpfte von 142 auf 133, zeigt eine Analyse von EY. Im renommierten THE-Ranking der weltbesten Universitäten findet sich mit der Technischen Universität München nur eine EU-Hochschule. Oxford und Cambridge hat die EU mit dem Brexit verloren, und die ETH Zürich liegt leider auch in der Schweiz. Und obwohl die Zuwanderung in die EU ungebrochen stark ist, fehlen uns Fachkräfte.

Der Wirtschaftsboom in den USA wird auch durch die niedrigen Energiepreise gestützt – durch Fracking wurden die USA zum größten Gasproduzenten der Welt. In der Energiekrise als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine steigerten die USA ihre Ausfuhren von Flüssiggas (LNG) noch einmal deutlich. In Österreich wird es schon zum Politikum, wenn ein Unternehmen in Oberösterreich (Molln) ganz konventionell nach Gas bohren will.

Was wurde aus dem Ziel, dass Europa der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt werden soll? An den Plan, beschlossen 2000 in Lissabon, erinnert sich offenbar niemand mehr. Die Erzählung ging damals so: Europa ist der Technologiestandort mit Fachkräften, die so gut sind, dass Firmen aus aller Welt trotz hoher Steuern bereit sind, sich hier anzusiedeln. Aber was, wenn nur noch die Steuern hoch sind, die Fachkräfte aber nicht mehr ausreichend vorhanden?

Europa steckt in einer Sinnkrise. Das Versprechen von Fortschritt verfängt nicht mehr: Freiheit, Wohlstand, Sicherheit – war alles immer schon da, das muss man nicht beschützen, denken viele. Und das Bewusstsein, dass Wohlstand geschaffen werden muss, bevor er verteilt werden kann, war auch schon einmal ausgeprägter.

Wir Europäer müssen endlich unsere Zukunft in die Hand nehmen. Solang wir noch optimistisch sein können.

E-Mails an: jeannine.hierlaender@diepresse.com

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