Deutschland: Die neue Attacke auf Maastricht

German Chancellor Merkel talks with Economy Minister Gabriel before cabinet meeting at Chancellery in Berlin
German Chancellor Merkel talks with Economy Minister Gabriel before cabinet meeting at Chancellery in Berlin(c) REUTERS
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Ja zu Juncker, wenn der Stabilitätspakt aufgeweicht wird? Der geplante Deal von Europas Sozialdemokraten lässt in Merkels Union die Alarmglocken läuten.

Berlin. Der Tabubruch erfolgte ganz diskret. Während die Kanzlerin die deutsche Fußball-Elf in Brasilien anfeuerte, sollte ihr SPD-Vize eigentlich nur ein Airbus-Werk in Toulouse besuchen. Doch Sigmar Gabriel nutzte seine Stippvisite in Frankreich, um en passant die EU-Stabilitätsregeln zu torpedieren: „Ich persönlich glaube auch, dass wir in Europa unsere Politik verändern müssen“, verkündete der Wirtschaftsminister zur Freude der Franzosen. Eine Idee könnte ja sein, „dass die Kosten, die durch Reformpolitik entstehen, nicht auf die Defizite angerechnet werden“.

Der leisen Botschaft zu Wochenbeginn folgte ein tagelanger Aufschrei aus Merkels Union und vielen deutschen Medien. Erinnerungen werden beschworen: Vor gut zehn Jahren versetzten Deutschland und Frankreich unter einer italienischen Ratspräsidentschaft dem Stabilitätspakt von Maastricht seinen ersten Todesstoß. Die Obergrenzen für staatliche Schulden und Defizite wurden erst ausgesetzt, dann aufgeweicht und damit de facto unwirksam.

Ein Trio wie vor zehn Jahren

Durch ihre „Sixpack“-Regeln versucht die EU-Kommission, dem Pakt neues Leben einzuhauchen und zumindest Konsolidierungspfade festzuschreiben. Nun aber könnte sich die Geschichte wiederholen: Wieder steht eine italienische Ratspräsidentschaft ins Haus. Wieder bildet sich ein Dreierbündnis: Italiens Premier Renzi, Frankreichs Präsident Hollande und Gabriel. Nur stellt die SPD nicht mehr den Kanzler wie unter Schröder.

Sie ist Juniorpartner unter Merkel, die eine Aufweichung strikt ablehnt. Aber Gabriels Truppe hat ein Faustpfand in der Hand: die Zustimmung zu Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidenten beim EU-Gipfel Ende nächster Woche. Dazu passt auch, dass Gabriel nun auf einen Kommissarsposten für Martin Schulz verzichtet (siehe unten): Die Maximalforderung ist gefallen, damit gewinnt die „Reform“ des Paktes an Gewicht.

Offiziell will freilich niemand an ihm rütteln. Es gehe um „Flexibilität in der Anwendung“, „mehr Fingerspitzengefühl“ oder die „richtige Balance“. Welche Ziele stecken dahinter? Am Weitesten geht Renzi. Das neue Sprachrohr der Sozialisten in Europa fordert, kreditfinanzierte „Reformkosten“ und Investitionen in Wachstum und Beschäftigung gar nicht mehr ins Defizit einzurechnen.

Wer aber entscheidet darüber, was „gute“ Investitionen und was „schlechte“ Konsumausgaben des Staates sind? Ist nicht auch ein Lehrergehalt eine Zukunftsinvestition? Die Regeln und ihre Überwachung würden jedenfalls noch komplizierter. Vor allem aber fürchten Nord- und Osteuropäer, dass damit der Manipulation Tür und Tor geöffnet wäre. Deshalb rückte Gabriel rasch von dieser Idee ab. Weiterhin forciert die SPD das Konzept, den Krisenstaaten mehr Zeit für den Defizitabbau zu geben, wenn sie sich zu Strukturreformen verpflichten.

Diese Flexibilität bieten die Regeln aber schon jetzt. Die Franzosen haben sie genutzt. Weil aber auch ein Aufschub von zwei Jahren sie der Drei-Prozent-Hürde kaum näherbringt, wünschen sie jetzt den „richtigen Rhythmus“ der Konsolidierung für alle Euroländer in Not – zu denen sie sich gar nicht zählen wollen.

Schröders Schützenhilfe

Hier tritt nun Gerhard Schröder auf den Plan. In einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“ verteidigt der deutsche Ex-Kanzler die „Flexibilisierung“ des Paktes vor zehn Jahren: „Nur deshalb war es möglich, die Agenda 2010 zu realisieren“ – und jetzt bräuchten eben andere Länder „finanzielle Spielräume“, um Reformen anzugehen. Sonst, so die Rute im Fenster, drohten weitere Erfolge EU-feindlicher Parteien: „Wenn dann die Grillos und Le Pens das Sagen haben, dann hat die EU keine gute Zukunft mehr.“ Was Schröder verschweigt: Gerade in jenen Krisenländern, die unter dem Druck eines Troika-Programms echte Reformen umgesetzt haben – also Spanien, Portugal und Irland – haben EU-Skeptiker bei den Europawahlen keinen Fuß in die Tür bekommen.

Allen Dementis zum Trotz wird nun an einem Deal gebastelt. Am Samstag treffen sich sieben sozialdemokratische Regierungschefs, darunter Österreichs Kanzler Faymann, in Paris, um die Taktik abzustimmen. In Berlin heißt es hinter vorgehaltener Hand: Man müsse Renzi und seinen Verbündeten entgegenkommen, um den EU-Gipfel nicht scheitern zu lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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