Wieden: Unentschlossen - und das ist gut so

Sanfte Verweigerung: Zu einem Trend wollte die Alpenmilchzentrale, die Kreativbüros beherbergt, nie werden.
Sanfte Verweigerung: Zu einem Trend wollte die Alpenmilchzentrale, die Kreativbüros beherbergt, nie werden. Die Presse
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Der vierte Bezirk weiß oft nicht so recht, was er will. Das macht Wahlen spannend und das Leben dort erstaunlich angenehm - außer man liebt Bäume.

Woran erkennt man Menschen, die auf der Wieden wohnen? Am Schweigen, wenn andere über ihr Grätzel reden. Mitteilsamer Bezirkspatriotismus ist uns fremd. Nicht, weil es hier nicht schön wäre. Es ist eher so, dass Nichtwiedener keinen Nutzen aus solchen Gesprächen ziehen können. Denn was sollte man erzählen? Nichts sticht hier hervor. Außer man muss auf eine Botschaft, zur Wirtschafts- oder Arbeiterkammer, auf die TU oder ins Radiokulturhaus, gibt es keinen dringenden Grund hierherzukommen. Es gibt nur sehr viele Gründe, hierzubleiben.

Denn die Wieden ist, auch wenn man das nicht so laut sagen sollte, ein unheimlich praktischer Bezirk. Was sie wiederum jenem Wesenszug verdankt, der sie so schwer zu fassen macht: dem unspektakulär Vagen, dem Sowohl-als-auch, dem harmonischen Widerspruch. Das zeigt sich ebenso bei der Politik: Die Wieden ist ein bürgerlicher Bezirk, der seit fünf Jahren rot regiert wird – von dem damals selbst überraschten Ex-Schuldirektor Leopold Plasch. In keinem anderen Bezirk lagen die Parteien 2010 so knapp beieinander. SPÖ und Grüne trennte nur eine Handvoll Stimmen, die ÖVP lag mit nur 14 Stimmen weniger auf Platz drei.

Diesmal rechnet sich die grüne Kandidatin Barbara Neuroth Chancen aus, nach Neubau einen zweiten Bezirksvorsteherposten für die Grünen zu erobern. Neuroth kommt aus der Bürgerbewegung und hat – „Warum sollte ich das auch verleugnen?“ – familiär einen eher bürgerlichen Hintergrund. Wie sich die ÖVP im Vergleich schlagen wird, wird interessant: Sie hat einen kleinen Schwenk hingelegt. Nach Susanne Reichard, die in der Tradition von Buseks „bunten Vögeln“ stand und zuvor beim Liberalen Forum war, hat nun Johannes Pasquali die Führung übernommen. Der schwarze Spitzenkandidat positioniert sich vor allem in der Verkehrspolitik und hier gegen die Grünen, die eine Begegnungszone vor der Paulanerkirche wollen. Ein wenig erinnert Pasquali an Ursula Stenzel: Er fordert mehr Ruhe oder auch strengere Auflagen für das Popfest am Karlsplatz. Was Pasquali mit Reichard gemeinsam hat: Auch er hat die Partei gewechselt. Er war früher bei der FPÖ.

Die Blauen führt im Bezirk formell Johann Gudenus an. Als Ex-Theresianum-Schüler und Absolvent der Diplomatischen Akademie hat er eine lokale Affinität. Auch der Rest der Familie pflegt eine solche: Clemens und Markus Gudenus sitzen ebenfalls im Bezirksparlament. Die Neos-Kandidatin ist übrigens auch keine Unbekannte – zumindest für ihre Politikkollegen in spe: Henrike Brandstötter hat als Angestellte schon für die ÖVP und die Grünen gearbeitet.

Jugendkultur für Erwachsene

Man sieht schon: Wieden neigt zum Wechsel. Vielleicht hat dieser Hang zum Changieren mit der Lage zu tun: Wieden ist nämlich ein Auto-, Öffi-, Radfahrer- und Fußgängerbezirk. Man kann in einer halben Stunde zum Stephansplatz spazieren oder auf der Autobahn nach Mödling fahren. Nun hat man auch noch einen nagelneuen Hauptbahnhof vor der Tür. Es ist übrigens typisch, dass man von dieser tiefgreifenden Stadtentwicklung nicht viel mitbekommen hat. Als Wiedener quert man selten den Gürtel. Außer sonntags, wenn man jetzt zum Bahnhofssupermarkt geht.

Das ist halt so bequem. Wie so vieles hier. Und das schätzt man, denn ein verschämtes Bedürfnis eint die jungen und alten Bewohner: Wer hier lebt, hat ganz gern seine Ruhe. Nur anmerken lassen will er sich das lieber nicht. Deshalb  verweist man hier gern mit allzu geläufiger Großstadtgeste auf das internationale Botschaftspublikum und pflegt eine gewisse, Lässigkeit. Man könnte es eine Jugendkultur für Erwachsene nennen, denn sie besteht zu einem großen Teil aus Retro-Zitaten, aus Anekdoten der Neunzigerjahre: Da gibt es etwa das Frühstückslokal aus der Zeit, als Fladenbrot mit Humus am Morgen noch exotisch war. Und die Schleifmühlgasse ist auf ewig ein bisschen "cool" (was keiner mehr sagt), weil auf ewig mit dem Alphaville verbunden, dessen Mitgliedskarte nicht bloß ein Videothekausweis, sondern ein ästhetisches Statement war. Und ab und zu erinnert man sich auch noch an die Abende von damals, als das Roxy zwar schon leer war, aber immer noch einen Ruf hatte. 

Das täuscht darüber hinweg, dass die Wieden an sich sehr brav ist (und dass das alle gut finden). Hier gedeiht vor allem das übliche Großstadt-Service für jüngere Erwachsene: hier ein Bioladen, dort ein Allergikercafé. Graffiti gibt es auch - in erster Linie auf Schulmauern im Rahmen eines Galerieprojekts. Für große neue oder gar wilde Dinge hatte der Bezirk nie so richtig die Kraft: Die ehemalige Alpenmilchzentrale, die auch diese Zeitung schon öfter zum Kreativ-Epizentrum ausrufen wollte, weigerte sich etwa beharrlich, so etwas wie ein Trend zu werden. Insofern ist es spannend, was aus dem künftig abgesiedelten Funkhaus werden soll. Derzeit ist es ein Fragezeichen aus grauem Beton.

Die ewige Debatte ums Grün

Das Bartleby'sche „I would prefer not to“, die sanfte Verweigerung, ist dem Bezirk eingeschrieben. Es ist kein unsympathischer Hang zum Introvertierten. Vielleicht hat das mit den vielen Institutionen zu tun, die der Straße kühl ihre Fassade zeigen. Die Debatte um die Öffnung versteckter Grünräume – zuletzt wurde der Park bei der Wirtschaftskammer geschlossen – ist hier naturgemäß ein großes Thema. Das rare Grün ist nämlich der Wieden wunder Punkt. Insofern muss ich einen Nachtrag zur Einleitung machen. Es gibt doch Wiedener, die über ihren Bezirk reden. Weil sie woanders hinwollen. Eltern kleiner Kinder und Hundebesitzer.

Die Presse

Serie: Wiens Bezirke

Bis zur Wien-Wahl am 11. Oktober porträtiert die ''Presse'' nach und nach alle 23 Wiener Bezirke. Die bisherigen Porträts finden sie unter diepresse.com/bezirke

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2015)

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