Das "System Merkel" im Brüsseler EU-Kosmos

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel
Deutschlands Kanzlerin Angela MerkelREUTERS
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Ohne den Sanktus der deutschen Kanzlerin geht auf EU-Ebene gar nichts. Doch der Nimbus der Unantastbaren schwindet.

Es ist 4.15 in der Früh, als Angela Merkel in Gefolgschaft ihres Sprechers, Steffen Seibert, und mehrerer Berater den deutschen Pressesaal im Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude betritt. Die lange Verhandlungsnacht hat bei der Kanzlerin Spuren hinterlassen. Ein leises „Guten Morgen“, dann beginnt Merkel, die zahlreich erschienenen Journalisten über die Ergebnisse des gerade zu Ende gegangenen EU-Gipfels zu unterrichten. Sie tut das in gewohnt unaufgeregter Manier; beinahe so, als wollte sie die Lauschenden mit ihrer Stimme langsam in den Schlaf wiegen. Wäre es nicht Merkel, die spricht, würde das ob der späten Stunde wohl auch gelingen. Vorwürfe oder gar Anschuldigungen an ihre 27 Amtskollegen sind der Kanzlerin auch nach schwierigen Diskussionen fremd. Der Ton ist deshalb ein ganz anderer als nur ein paar Räume weiter, wo der Brite David Cameron sein Briefing abhält, angriffig und wild gestikulierend. Werner Faymann müht sich zur gleichen Zeit sichtlich, die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu halten. Bei Merkel ist das nicht nötig, so viel Gewicht hat das Gesagte.

Trotz oder gerade wegen ihrer besonnenen Art, Politik zu machen, hat die heute 61-Jährige die Geschicke der Europäischen Union in den vergangenen zehn Jahren geprägt wie niemand sonst. Wirkte sie zu Beginn ihrer Kanzlerschaft 2005 mitunter ideenlos, gab Merkel ab Beginn der Euro- und Staatsschuldenkrise auf europäischem Parkett eine klare Richtung vor. Sie oktroyierte den Ländern der gemeinsamen Währungszone eine strikte Sparpolitik auf, was ihr besonders im Süden des Kontinents übel genommen wurde – und nach wie vor wird.

Strenges Credo Sparpolitik

Wütende Demonstranten in Portugal, Spanien und Griechenland, Vergleiche mit Nazi-Deutschland – all das konnte Merkel nicht von ihrer Überzeugung abbringen: Eine strenge Haushaltspolitik ist das beste Mittel gegen hohe Staatsverschuldung. Am Ende war es jedoch die Kanzlerin, die in letzter Minute verhinderte, dass Hellas aus dem Euro flog – Pläne dafür hatte ihr Finanzminister, Wolfgang Schäuble, bereits ausgearbeitet auf dem Schreibtisch liegen. Doch Merkel wollte nicht als Kanzlerin in die Geschichte eingehen, unter deren Führung die Union durch den Euro-Austritt eines Mitgliedstaats einen schmerzlichen Rückschritt mit ungeahnten Folgen erleidet – und verhinderte das Vorhaben.

Ruhiges, zaghaftes Abwägen

Ruhiges, mitunter zaghaftes Abwägen einer komplexen politischen Situation zählt wohl gleichermaßen zu Merkels größten Stärken wie Schwächen – und es ist in jedem Fall eine Eigenschaft, die die Deutschen an ihr besonders schätzen. Sie spielt die Macht im Hintergrund aus und will sich dabei auch nicht dreinreden lassen: Hat Merkel einmal einen Beschluss gefasst, setzt sie ihn mit kühlem Kopf durch.

Auf EU-Ebene, wo der Rat der Mitgliedstaaten bekanntermaßen das größte Gewicht im Institutionengefüge hat, gelang ihr das bisher beinahe lückenlos: Ein Vorhaben ohne Merkels Sanktus hat keine Chance auf Umsetzung – liegt sie doch mit ihrer Einschätzung im Vorfeld wichtiger Entscheidungen (fast) immer richtig.

Auch die Eigenschaft, selbst nach mühsamen Verhandlungen das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen, wird ihr von vielen EU-Partnern hoch angerechnet.

Langsam aber schmilzt der Bonus Merkels. In der Flüchtlingskrise droht ihr der Verlust der Gefolgschaft wichtiger Mitgliedstaaten. Zum ersten Mal in ihrer Kanzlerschaft hat die sonst so pragmatisch Denkende mit einer überaus emotionalen Entscheidung Gegner wie Befürworter überrascht. Viele ihrer Anhänger fühlen sich vor den Kopf gestoßen: in Deutschland selbst, aber auch auf europäischer Ebene. Das Credo, mit dem Merkel nun in der EU verbunden wird, lautet nicht mehr „Sparpolitik“, es lautet: „Wir schaffen das.“

Dass sie sich damit im Gremium der 28 Staats- und Regierungschefs nicht wie einst in der Eurokrise durchsetzen kann, dürfte eine Genugtuung für jene sein, die die Übermacht der deutschen Kanzlerin in der Europäischen Union seit Langem stört. Eine stark politisierte Kommission versucht nun mehr und mehr, die Themensetzung vorzugeben; der Rat präsentiert sich so uneinig wie unwillig. Mit seiner geschwächten Position schwindet auch der Nimbus der unantastbaren Kanzlerin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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