Deutschland steckt in einem Dilemma

Christoph Schwennicke
Christoph Schwennickeimago/Jürgen Heinrich
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Cicero-Chefredakteur Schwennicke über die Flüchtlingskrise als historische Wiedergutmachung und die deutsche Vormachtstellung in der EU.

Die Presse: Die Anschläge von Paris haben Europa seine Verletzlichkeit vor Augen geführt. Frankreich hat unmittelbar danach seine Luftschläge in Syrien intensiviert. Deutschland gilt als militärisch nicht besonders engagiert und hat sich mit seinem Hilfsangebot Zeit gelassen. Wieso ist man so zögerlich?

Christoph Schwennicke: In Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundsätzlich sehr viel getan. Die Versuchung, lieber auf das Scheckbuch als auf Kompanien zurückzugreifen, sehe ich ein Stück weit überwunden. Die Bundeswehr ist in Afghanistan und in Mali im Einsatz, sie war auch auf dem Balkan. Vom Bundespräsidenten und von der Verteidigungsministerin hörte man zuletzt flammende Reden, dass man – auch militärisch – mehr Verantwortung übernehmen müsse.

Wird das geschehen?

Die Bundeswehr hätte die Kapazitäten, aber es wird politisch große Willensstärke benötigen, der Bevölkerung so etwas klarzumachen.

Angela Merkel gab in der Flüchtlingskrise den Appell aus: „Wir schaffen das!“ Hat sie das nicht zu Ende gedacht?

Das war der schwerwiegendste Fehler ihrer Amtszeit. Es gibt Fehler, hinter die man nicht mehr zurückkommt.

Gleichzeitig wurde diese Geste als Akt der Humanität ausgelegt.

Ich bin mir nicht so sicher, ob das Hurra in den europäischen Regierungszentralen wirklich so groß war. Natürlich war es ein Akt der Humanität, er war aber nicht hinterlegt. Zu sagen, „Wir schaffen das“, ist das eine. Zu wissen, wie man es schaffen kann, ist das Entscheidende. Materiell kann man viel schaffen, mental nicht. Man kann einem Land so eine Entscheidung nicht oktroyieren. Schon gar nicht, wenn man Vorsitzende einer Partei ist, die jahrzehntelang negiert hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. „Multikulti ist gescheitert“, hat Merkel gesagt. Und nun macht sie sich selbst zur obersten Integrationskanzlerin. Diese Kehrtwende ist so extrem, dass sie nicht funktionieren kann.

Deutschland vollzieht seither eine Kehrtwende von der Kehrtwende.

Die Anschläge von Paris sind ein zynisches Glück. Uns wurde ein zweites Fukushima beschert. Damals nutzte die Kanzlerin die Reaktorkatastrophe dazu, ihre Fehlentscheidung, eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, zu revidieren. Nun wird es dazu kommen, dass die EU-Außengrenzen dichtgemacht werden. Damit löst sich das Problem vor der deutschen Grenze.

Hat Deutschland durch die Flüchtlingskrise das Heft in der EU aus der Hand gegeben?

Bei der Griechenland-Krise war Deutschland immer im Fahrersitz. Bei der Flüchtlingskrise hat man hingegen eine Sogwirkung erzeugt, statt sich im Vorfeld mit anderen Regierungen zu beraten. Durch diese Fehlentscheidung ist Merkel in die Defensive geraten. Natürlich lehnen sich die anderen da zurück und sagen: „Ja sorry, aber wer hat die Menschen denn hergeholt?“

Wird dies dazu führen, dass man Deutschland auf der Nase herumtanzt?

Das Machtgefüge innerhalb der EU hat sich in den vergangenen Monaten sehr stark verändert. Etwa gegenüber der Türkei. Angela Merkel muss bei Erdoğan zu Kreuze kriechen. Und die Türkei ist schrecklicher, als sie schon einmal war, damals hat man ihr aber noch die kalte Schulter gezeigt. So ähnlich ist das auch bei Griechenland. Man ist nun darauf angewiesen, dass die Griechen ihre Grenzen dichtmachen und Hotspots errichten. Polen wiederum hat seltsame Reflexe entwickelt und begreift nicht, dass Europa keine Einbahnstraße ist. Wer von der Gemeinschaft profitiert, muss etwas zurückgeben. Man kann sich nicht nur die Rosinen herauspicken.

Sagen Sie das als deutscher Nettozahler?

Ich will es nicht schnöde am Geld festmachen. Aber am Ende hängt alles am und drängt alles zum Geld. Man verkennt, was das Wort Solidargemeinschaft bedeutet.

Darf man in einer Solidargemeinschaft auch andere Länder dazu zwingen, sich, überspitzt gesagt, zu Tode zu sparen?

Das Spardiktat ist kein deutsches Diktat. Auf die Maastricht-Kriterien hat man sich gemeinsam verständigt, auch wenn sie manchmal nicht für alle gelten, nicht einmal für Deutschland.

Aber Deutschland hat seine Rolle als Zuchtmeister, wie es der einstige griechische Finanzminister formulieren würde, recht deutlich ausgespielt.

Ich mag diese Metaphorik nicht. Tatsache ist doch: Die harte Linie war richtig und hat die Regierung Tsipras auf den richtigen Pfad gebracht.

Hat Deutschland darüber die politische Entwicklung der EU vernachlässigt?

Deutschland versucht, den Rest von Europa vom, aus seiner Sicht richtigen, Gedanken des Föderalismus zu überzeugen. Viele Staaten sind aber zentralistisch organisiert. Ich habe immer gehofft, dass man zu den Vereinigten Staaten von Europa kommt. Das hieße: eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik, eine Arme, eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial-, und Steuerpolitik. Das würde aber sehr viel Integration und Vertiefung bedeuten. Diese ist aus meiner Sicht derzeit nicht erreichbar.

Wäre Berlin denn bereit, Macht an Brüssel abzugeben?

Nein, natürlich ist die Bereitschaft nicht da. Sie ist auch beim Bundesverfassungsgericht nicht da. Diese Instanz tut sich am schwersten damit, nicht mehr Höchstgericht zu sein.

Klingt nach Dilemma.

Ja, Deutschland steckt in einem Dilemma, aus dem es keinen wirklichen Ausweg, sondern nur einen Umgang damit gibt. Und das Problem besteht darin zu sagen: Führe jetzt. Der britische „Economist“ hat Deutschland so oft als zaudernden Hegemon dargestellt, man könnte Wände damit tapezieren. Aber wehe, Deutschland täte es. Deswegen muss jeder deutsche Regierungschef führen, andererseits darf man es nicht so merken. Würde man diesem Appell Folge leisten, wüsste ich schon, wie die nächste Titelseite aussähe. Da kommt Deutschland mit seiner Geschichte nicht raus.

Wäre es tatsächlich ein Problem, würde man die Vormachtstellung in Europa einnehmen?

Faktisch ist das jetzt schon so. Aber man darf es nicht heraushängen lassen. Man muss taktisch damit umgehen.

Werden die Deutschen ihre Geschichte eines Tages überwinden?

Die Geschichte wird immer eine Rolle spielen. Ich gehe sogar so weit und sage, dass es sich bei der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin um eine Art von Wiedergutmachung handelt. Also tiefenpsychologisch betrachtet.

Wie sehen Sie als Deutscher das Verhältnis zu Österreich? Schaut man auf Österreich herab?

Ich schaue nicht auf Österreich herab. Im Gegenteil, ich würde mir mehr Österreich in Europa wünschen.

Warum?

Ich höre Österreich nicht. Ich wünschte mir, dass sich Österreich lauter zu Wort meldet. Es hätte alles Recht dazu.

ZUR PERSON

Christoph Schwennicke (*1966 in Bonn) ist seit Mai 2012 Chefredakteur des politischen Monatsmagazins „Cicero“. Er absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München und studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Journalismus. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte Schwennicke als freier Mitarbeiter bei der „Illertisser Zeitung“, weil der Lokalchef gegenüber wohnte, wie er einmal sagte. 1993 wurde er Redakteur der „Badischen Zeitung“, ab 1995 deren Parlamentskorrespondent in Bonn. 1996 folgte der Wechsel in die Parlamentsredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, die er ab 2005 leitete. Ab 2007 schrieb er als Reporter für den „Spiegel“. 2010 schrieb der passionierte Angler ein Buch namens „Das Glück am Haken“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

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