Was muss Erdoğan noch tun, damit die EU die Beitrittsgespräche stoppt?

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Einen Staat, der Oppositionelle einsperrt und die Demokratie systematisch aushöhlt, sollte die EU nicht länger wie einen Aufnahmekandidaten behandeln.

Die EU hat vor mehr als 23 Jahren klar festgelegt, unter welchen Bedingungen sie neue Staaten aufnehmen kann. Kern der Kopenhagener Kriterien ist folgender Satz: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben.“

Die gegenwärtige Führung der Türkei verstößt seit Monaten eklatant gegen jedes einzelne dieser Prinzipien. Mit der Verhaftung führender Oppositionspolitiker hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan die nächste rote Linie überschritten. Europa darf diese Missachtung grundlegender demokratischer Spielregeln nicht achselzuckend hinnehmen, auch nicht aus Rücksicht auf das Flüchtlingsabkommen mit Ankara. Die EU muss endlich handeln und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen.

Jetzt ist die Zeit für einen Schritt gekommen, den Kanzler Kern und Außenminister Kurz schon im Sommer setzen wollten. Das wäre damals, so bald nach dem blutigen Putschversuch, vielleicht noch voreilig und fast pietätlos gewesen. Mittlerweile jedoch ist es absurd, dass die EU einen Staat, der von Tag zu Tag tiefer in autokratischer Willkür versinkt, weiterhin wie einen Beitrittskandidaten behandelt und über Sanktionen, die über die Einbestellung türkischer Botschafter hinausgehen, nicht einmal nachdenkt.

Die türkische Regierung hat jedes Recht, die Verantwortlichen für den Putschversuch zur Rechenschaft zu ziehen. Doch Erdoğan hat in seinem Rachefeldzug das Maß verloren. 110.000 Personen sind seit dem 15. Juli verhaftet oder entlassen worden: Richter, Beamte, Militärs, Lehrer, Polizisten und Dutzende Journalisten. Die Jagd auf Anhänger der Gülen-Bewegung, die als Drahtzieher des Coups gilt, war oft nur ein Vorwand, um unliebsame Kritiker loszuwerden. Erdoğan will die Gunst der Stunde nützen, um seine Macht dauerhaft abzusichern und die Türkei nach seinem Gusto umzugestalten, nämlich in ein Präsidialsystem.

Dabei stand ihm bisher im Parlament die drittgrößte Partei im Weg, deren Vorsitzende, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, nun in Untersuchungshaft sitzen. Ihnen und den anderen Abgeordneten der prokurdischen HDP wird vorgeworfen, zu „Terrorismus zu ermutigen“. Das ist Unfug. Demirtaş hat Anschläge radikaler Splittergruppen der PKK stets verurteilt, so wie auch den Juli-Putsch.

Indem Erdoğan den Kurden den demokratischen Weg versperrt und sie in den Untergrund drängt, riskiert er einen offenen Bürgerkrieg. Der abscheuliche Anschlag auf eine Polizeistation in Diyarbakır war möglicherweise nur ein erster Vorbote. Sollte die Türkei, wie von Regierungspolitikern angeregt, tatsächlich wieder die Todesstrafe einführen und auch PKK-Chef Öcalan am Strang enden, könnte sich das Tor zur Hölle öffnen. Wer sich vor Augen hält, dass zudem die Terrormiliz IS neue Attentate angekündigt hat, kann sich ausmalen, was auf die Türkei zukommen könnte.

Erdoğan führt die Türkei auf seinem manisch-paranoiden Egotrip in den Abgrund. Er verspielt alles, was er in der ersten Hälfte seiner Amtszeit aufgebaut hat: die Demokratisierung, den Ausgleich mit den Kurden und den wirtschaftlichen Aufschwung. Nach der Verhaftung der Oppositionspolitiker stürzte am Freitag die Türkische Lira dramatisch ab – ein Hinweis auf Erdoğans Achillesferse. Die von Ratingagenturen herabgestufte Türkei ist bei Investitionen, Tourismus und Refinanzierung seiner Schulden hochgradig vom Ausland abhängig, insbesondere von Europa. Da liegt ein Hebel, um Erdoğan unter Druck zu setzen – oder in die Arme anderer zu treiben.

Von einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen wird er wenig beeindruckt sein. Erdoğan will ihn vermutlich sogar provozieren. Sonst hätte er nicht so knapp vor Erscheinen des Türkei-Fortschrittsberichts der EU-Kommission die Todesstrafe forcieren und Oppositionspolitiker verhaften lassen. Der türkische Präsident hat sich längst gegen Europa und für seine Form des nahöstlichen Despotismus entschieden. Die EU sollte diese Realität schön langsam anerkennen und ihre Politik danach ausrichten.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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