Stefan Zweigs Erinnerungen an eine bessere Welt

Literatur. In der „Welt von Gestern“ beschreibt der im Exil lebende Dichter seine Vergangenheit in einem offenen, multiethnischen Europa, in dem Grenzen keine Rolle spielten.

Es war die Sicherheit. Eine Sicherheit, die heute allerdings in einem weit engeren Sinn verstanden wird. Stefan Zweig, der in „Die Welt von Gestern“ die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg beschreibt, meint einen sehr weit gefassten Begriff: Eine Sicherheit, die es erlaubte, frei zu denken, frei zu reisen, die ein Nebeneinander unterschiedlicher Glaubensrichtungen, Ideologien und Kulturen ermöglichte. Alles eingebettet in einem riesigen Staatsgebilde, das zwar bürokratisch aufgebläht war, aber seine Urfunktion gut erfüllte. Denn das Kaiserreich protegierte die Vielfalt der Menschen, gab ihnen eine gemeinsam verwaltete Heimat.

Zweig schreibt über Wien, seine Geburtsstadt: „Es war lind, hier zu leben, in dieser Atmosphäre geistiger Konzilianz, und unbewusst wurde jeder Bürger dieser Stadt zum Übernationalen, zum Kosmopoliten, zum Weltbürger erzogen.“ Er beschreibt das Kulturleben, das darauf ausgerichtet war, nicht nur Eliten, sondern breite Massen zu erreichen. Er erzählt von der Freude, mit der seine Schulkameraden und er die Dichtung und Debatte pflegten. „Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn an der Donau herab, die statt tüchtig zu sein und straffe Ordnung zu halten, sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten und dazu vortreffliche Musik machten.“

Die bitteren Erfahrungen des jüdisch-österreichischen Dichters, der 1934 seine Heimat verlassen musste, um zuerst in London, später in Brasilien im Exil zu leben, mag seinen Rückblick verklären. Aber Zweig beschreibt Muster, in denen Europa funktionierte. „Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte, und blieb, so lange er wollte.“ Tatsächlich erlebte Mitteleuropa damals die Vorteile offener Grenzen. Sie waren, so Zweig, nur noch „symbolische Linien, die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich“.

Er erinnerte daran, dass Juden und Christen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch friedlich nebeneinander gelebt hatten, „und selbst die politischen und sozialen Bewegungen entbehrten jener grauenhaften Gehässigkeit, die erst als giftiger Rückstand vom Ersten Weltkrieg in den Blutkreislauf der Zeit eingedrungen ist. [. . .] Der Hass von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Tisch zu Tisch sprang einen noch nicht täglich aus der Zeitung an, er sonderte nicht Menschen von Menschen, Nationen von Nationen; noch war jenes Herden- und Massengefühl nicht so widerwärtig mächtig im öffentlichen Leben wie heute.“

Zweig verfolgt, wie eine mit bescheidenem Wohlstand ausgestattete Gesellschaft auseinanderdriftet, ohne zu entdecken, dass sie damit die Basis ihrer Gemeinschaft zerstört, den Frieden und die Sicherheit verlässt. Er erzählt, wie neben der Vielfalt der Kulturen, neben gegenseitiger Toleranz und einem Freiraum für Kreativität eine Dissonanz entstanden ist. Als er die „Welt von Gestern“ im brasilianischen Petrópolis verfasst, analysiert er die beginnenden Spannungen zwischen Sozialisten und Christlichsozialen, deren Anhänger sich mit roten beziehungsweise weißen Nelken schmückten. Er erinnert an den latent vorhandenen Antisemitismus, der vom Kaiserhaus noch unterdrückt wurde, bevor er sich nach dem Ersten Weltkrieg epidemisch ausbreitete. Zweig schreibt: „Aber schon tauchte eine dritte Blume auf, die blaue Kornblume, Bismarcks Lieblingsblume und Wahrzeichen der deutschnationalen Partei, die – man verstand es nur damals nicht – eine bewusst revolutionäre war, die mit brutaler Stoßkraft auf die Zerstörung der österreichischen Monarchie zugunsten eines – Hitler vorgeträumten – Großdeutschlands unter preußischer und protestantischer Führung hinarbeitete.“ (wb)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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