Antidepressivum Churchill: „We need your help!“

Die Züricher Rede. „Wir müssen die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenfassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte.“ Churchill, 1946.

Wien. Keine Spur von europäischer Depression war zu merken, als sich Mitte November 2016 60 junge Erwachsene aus 35 Ländern in der Aula der Universität Zürich einfanden zur ersten European Future Leaders Conference. Sie diskutierten darüber, wie das Europa des Jahres 2030 aussehen könnte. Trotz Brexit, trotz nicht ausgestandener Eurokrise und nicht bewältigter Massenzuwanderung gab es viel Optimismus – und Geschichtsbewusstsein. Nach Berichten Schweizer Zeitungen rief einer der Mitwirkenden „We need your help, Winston!“, er machte damit eine Anspielung auf die besondere Aura, die dieser Raum seit dem September 1946 hat.

Damals hielt Winston Churchill, Oppositionsführer im britischen Unterhaus und nach dem Sieg über den Nationalsozialismus eine Kultfigur für die Demokraten Europas, seine legendäre „Rede an die akademische Jugend“. Die Universität Zürich hatte ihn eingeladen, die Schweiz bot ihm einen triumphalen Empfang, die Rede wurde weltweit rezipiert. Der Ort erschien passend: Schon der Begründer der Paneuropa-Bewegung, Graf Richard Coudenhove-Kalergi, sah den Vielvölkerstaat Schweiz als mögliches Vorbild für ein zukünftiges Europa.

Churchill sprach über die schreckliche Lage auf dem Kontinent, die zerstörten Städte und die traumatisierten Menschen. Dann kam der Appell, in die Zukunft zu schauen, den Schrecken der Vergangenheit den Rücken zu kehren. Seine Rede kulminierte in einer optimistischen Vision: „We must build a kind of United States of Europe.“ Ganz neu war die Vision eines vereinigten Europa nicht, doch was Churchill vorschlug, war in einem Jahr, in dem die Wunden des Zweiten Weltkriegs noch bluteten, doch revolutionär: Eine deutsch-französische Partnerschaft könnte den Kontinent befrieden. Als Moderator dieser Einigung sollten die USA und Großbritannien fungieren, sie könnten als „friends and sponsors“ helfen, die Wirtschaft zu stärken und dauerhaften Wohlstand zu sichern.

Der Sonderweg der Briten im europäischen Einigungsprozess, der 2016 nach dem Anti-Europa-Referendum zu so viel Depressionen führte, war also schon vor 70 Jahren in dieser Rede angelegt. Sein Land, Großbritannien, habe seine „eigenen Träume und Aufgaben“, in Augenhöhe mit der Siegermacht USA, was den geopolitischen Realitäten des Jahres 1946 bei Weitem nicht mehr entsprach. Da lebte Churchill noch in der Empire-Vergangenheit, seine Gedankenwelt war allzu sehr geprägt von der Commonwealth-Welt und der Idee des Führenwollens. Staatliche Souveränität an eine europäische Institution abzugeben, kam für ihn nicht infrage. Den Kontinent sah er eher als „Vorfeld“.

Es gibt inzwischen viele Theorien für die so frühe Festlegung der britischen Politik gegenüber Europa. Diente der Vorschlag zur Beruhigung der Sowjetunion, die einen von England dominierten europäischen Block nicht gern sah? Jedenfalls war von einer isolationistischen Politik Englands in der Folge keine Rede: Churchill spielte als „Taufpate“ der europäischen Vereinigung eine wichtige Rolle bei der Gründung des Europarats, bei der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Aufnahme Deutschlands. Doch 1951, als Churchill mit 77 Jahren als Premier in die Downing Street zurückkehrte, schloss er immer noch die Integration in ein supranationales Europa aus. Aus diesem Jahr stammt der Dialog mit dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer. Churchill: „Sie können beruhigt sein, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen.“ Darauf Adenauer: „Herr Premierminister, da bin ich ein wenig enttäuscht. England ist ein Teil Europas.“

Schweiz oder USA als Vorbild?

Über die genaue Ausformung dieser Vereinigten Staaten von Europa äußerte sich Churchill nicht. Man konnte also munter drauflosinterpretieren. Ist das Ziel ein europäischer Superstaat, ein Modell, das bei politischen Eliten und der Bevölkerung heute Widerstand hervorruft? Ist das Modell der USA zielführend? Oder wollte der Redner von Zürich ein Vereinigtes Europa der Regionen nach dem Muster der Schweizer Erfolgsstory? Oder doch eine lose Vereinigung von Nationalstaaten, wie sich die EU heute präsentiert?

Winston Churchills Rhetorik war brillant, doch seine Worte dienten auch als Projektionsfläche für verschiedene Ideen. Für die einen verkörperte er Widerstandsgeist, was ein gemeinsames europäisches Programm schwierig machte, für die anderen wurde er zum Paten der europäischen Idee. Für die Schweiz und seine enthusiasmierten Zuhörer hatte die Rede jedenfalls keine außenpolitischen Folgen. Sie schlug einen anderen Weg ein als die Länder Europas, die sich zusammenschlossen und den Staat, der sie mit seinen Panzern überrollt hatte, miteinbezogen.

Was Churchills Rede 1946 auszeichnete, die Verurteilung des Nationalismus, der zu zwei Weltkriegen geführt hatte, macht sie 70 Jahre später erstaunlich aktuell. Das Sensorium, das der britische Staatsmann für die Destruktionskraft des Nationalen entwickelte, sprach die jungen Leute wieder an, die sich im November 2016 unter der marmornen Kanzel, trafen, von der aus Churchill gesprochen hatte. Sie nahmen das bei ihren Diskussionen über die Zukunft auf, sie waren sich einig, dass die Probleme der nächsten Jahrzehnte nicht innerhalb der nationalen Grenzen zu lösen seien und griffen Churchills „Let Europe arise!“ auf, indem sie proklamierten „Let democracy arise!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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