Fall Alijew: Neue offene Fragen

Archivbild: Die Justizanstalt Josefstadt, in der Rachat Alijew gestorben ist
Archivbild: Die Justizanstalt Josefstadt, in der Rachat Alijew gestorben istAPA/HERBERT NEUBAUER
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Warum löste sich die Versiegelung der Zellentür? Warum bekam der Gutachter nicht alle Unterlagen? Im - offiziell schon abgeschlossenen - Fall Alijew sind Fragezeichen geblieben.

Seit Vorliegen des Privatgutachtens des deutschen Gerichtsmediziners Bernd Brinkmann, wonach der Tod des kasachischen Ex-Botschafters Rachat Alijew „durch fremde Hand“ hervorgerufen worden sei, tauchen immer mehr seltsame Umstände auf. So ergibt ein Gedächtnisprotokoll des Justizwache-Abteilungskommandanten T., dass die Tür zu Haftraum Z5/10 (hinter dieser Tür starb Alijew am 24. Februar 2015) nach Auffinden der Leiche vom Wiener Landeskriminalamt versiegelt worden sei – sich diese Versiegelung aber über Nacht „gelöst“ habe.

Alijew (52), Ex-Schwiegersohn des despotischen kasachischen Langzeit-Präsidenten Nursultan Nasarbajew, war im Gefängnis Wien-Josefstadt in U-Haft gesessen. Seine Anklage war fertig gestellt gewesen. Ihm wurde zur Last gelegt, gemeinsam mit zwei Komplizen zwei kasachische Banker umgebracht zu haben. Der Ex-Diplomat und früher millionenschwere Großunternehmer hatte dies aber stets bestritten.

Kurz vor dem Mordprozess wurde er tot aufgefunden. Offenbar hatte sich Alijew mittels einer Mullbinde aus der Krankenstation der Haftanstalt erhängt. Seine an einen Kleiderhaken befestigte Leiche wurde im Nassraum seiner Einzelzelle 5/10 aufgefunden.

Tod durch Erhängen könne aber aufgrund von Hautblutungen an bestimmten Körperstellen der Leiche ausgeschlossen werden, so Brinkmann. Übrigens: Auf die Dienste von Bernd Brinkmann (ihn hatte nun Alijews Witwe engagiert) hatte einst auch die österreichische Justiz zurückgegriffen. Er war es, der als eine Art Obergutachter den Erstickungstod des Schubhäftlings Marcus Omofuma festgestellt hatte.

Keine neue Versiegelung der Zellentür

Aber zurück zur Haftraumtür: Nachdem sich das Siegel gelöst hatte (es lag am Boden) hätten insgesamt vier Ermittler in der Zelle gearbeitet (zwei Personen einer Tatortgruppe und zwei Leute der Gruppe Leib und Leben des Landeskriminalamts Wien). So steht es im Gedächtnisprotokoll des Abteilungskommandanten T.

Die Polizisten hätten das Siegel dann aber nicht wieder angebracht. So habe er aus eigenem Antrieb Hinweise an der Zellentür und auf einer Standtafel angebracht, schreibt T. in seinem Protokoll. Auch in den Folgetagen der Ermittlungen sei er so vorgegangen.

Dies lässt zwar nicht unmittelbar auf Manipulationen des Tatortes schließen, zeigt aber, dass T. sich eher auf seine Improvisationsgabe als auf klare Festlegungen der Polizisten verlassen konnte.  

Proben von Essensresten in der Todeszelle seien erst eine Woche nach Alijews Tod von der Polizei genommen worden, nämlich am 1. März 2015. Dazwischen war sogar schon ein ORF-Kamerateam in der Zelle gewesen, um zu filmen. Die Essensproben sollten offenbar eine mögliche Vergiftung des Kasachen entweder beweisen oder ausschließen. 

St. Gallen musste ohne Fotos auskommen

Schließlich sagte sowohl die Gerichtsmedizin in Wien (Leitung: Daniele Risser) als auch die in St. Gallen (Roland Hausmann): Es müsse Suizid gewesen sein. Diese Darstellung wurde später auch durch eine österreichische Untersuchungskommission unter Leitung des pensionierten Generalprokurators Ernst Eugen Fabrizy bestätigt.

Allerdings: Wie sich nun herausstellt, dürfte St. Gallen zwar den Wiener Obduktionsbefund, nicht aber die Leichenfotos übermittelt bekommen haben. Ob das so war und wenn ja, warum, prüft derzeit die Staatsanwaltschaft Wien, die den Fall eigentlich längst abgeschlossen hatte.

"Ich schließe Suizid aus!"

Nächste Auffälligkeit: Der für Alijew zuständige Gefängnispsychiater mailte nach dem Tod des Kasachen an dessen frühere Anwälte Manfred und Klaus Ainedter: „Ich schließe aus psychiatrischer Sicht einen Suizid zu 100 Prozent aus. Es kann hier keinerlei Zweifel geben, dass ein Fremdverschulden vorliegt.“ Gewiss: Ein Psychiater ist kein Ermittler. Und: Jeder kann sich irren. Aber die Eindeutigkeit dieser Zeilen ist erwähnenswert.

Und noch etwas ist eigenartig: Der Justizwachebeamte P. hatte Fotos vom Haftraum gemacht. Als die Witwe diese Bilder sichten wollte und die genannten Anwälte beauftragte einen diesbezüglichen Beweisantrag einzubringen, hieß es in einem Polizeibericht: „Diese vom Haftraum gemachten Bilder wurden jedoch lt. Justizwache nach Freigabe des Haftraumes durch die Staatsanwaltschaft Wien gelöscht.“

Wie es nun weitergeht? Die Rechtsmedizin St. Gallen soll möglichst noch vor Weihnachten ihre Stellungnahme zum Brinkmann-Gutachten nach Wien schicken. Kann die Suizid-Version entgegen der Brinkmann-Festlegung ("Tötung durch fremde Hand") argumentiert werden, dürfte der Fall früher oder später von der Staatsanwaltschaft Wien wieder geschlossen werden. Die zentrale Frage konnte jedenfalls bis heute nicht einmal ansatzweise beantwortet werden: Wer könnte - realistischerweise - als Mörder in Frage kommen? Zwar blühen die Spekulationen; vom gedungenen oder gut bezahlten Justizwachebeamten ist die Rede (die Justizwache wehrt sich heftig gegen derlei Überlegungen), auch geheimnisvolle Kasachen-Killer wurden schon herbeigeredet - konkrete Hinweise gibt es jedoch keine.

Erst Botschafter, dann Mordanklage

Chronologie. 2002 kam der Kasache Rachat Alijew als Botschafter nach Wien. 13 Jahre später starb er dort in einer Einzelzelle. Was dazwischen geschah, liest sich wie ein Krimi.

  • 2002: Rachat Alijew, Schwiegersohn des autokratischen Staatschefs Nursultan Nasarbajew, wird nach Putschgerüchten als kasachischer Botschafter nach Wien geschickt.

  • 2005: Alijew kehrt als Vize-Außenminister nach Kasachstan zurück.

  • 31. Jänner 2007: Zwei Manager der kasachischen Nurbank verschwinden spurlos. Haupteigentümer der Bank ist Rachat Alijew.

  • 9. Februar 2007: Alijew kehrt kurz als Botschafter nach Wien zurück.

  • 23. Mai 2007: Ermittlungen gegen Alijew wegen der Entführung der beiden Bankmanager starten.

  • 26. Mai 2007: Alijew wird als Botschafter abgesetzt. Nasarbajews Tochter Dariga reicht die Scheidung ein.

  • 28. Mai 2007: Kasachstan erlässt einen Haftbefehl gegen Alijew.

  • 30. Mai 2007: Auslieferungsantrag an Österreich wird gestellt.

  • 1. Juni 2007: Alijew wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vorübergehend in U-Haft genommen.

  • 8. August 2007: Österreich lehnt das Auslieferungsbegehren ab.

  • 17. Jänner 2008: Kasachstan verurteilt Alijew in Abwesenheit wegen Entführung der Manager und stellt einen weiteren Auslieferungsantrag. Im März wird auch der Alijew-Vertraute, der Ex-Geheimdienstchef Alnur Mussajew, in Abwesenheit zu 20 Jahren Straflager verurteilt.

  • Juli bis September 2008: drei gescheiterte Entführungsversuche gegen Mussajew und den Alijew-Leibwächter Vadim Koshlyak in Wien.

  • 10. Juli 2009: Wegen Gerüchten, der kasachische Geheimdienst habe Abgeordnete beeinflusst, setzt das Parlament einen Untersuchungsausschuss ein. Diese Gerüchte werden später auch vom Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) bestätigt.

  • Februar 2011: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erlaubt die Auslieferung eines Kasachen durch die Ukraine an sein Heimatland.

  • 18. Mai 2011: Auf dem Gelände einer ehemaligen Firma Alijews in Kasachstan werden die Leichen der Bankmanager gefunden.

  • 16. Juni 2011: Das Landesgericht Wien lehnt auch den zweiten Auslieferungsantrag Kasachstans ab.

  • Juli 2011: Die österreichischen Behörden beginnen Ermittlungen gegen Alijew wegen Mord- und Geldwäschevorwürfen. Alijew hält sich in Malta auf und nimmt den Namen seiner Frau, Shoraz, an.

  • März 2013: Alijew bzw. Shoraz erhebt in seinem Buch „Tatort Österreich“ Vorwürfe gegen Politiker. Als Helfershelfer Kasachstans werden Ex-Innenminister Karl Blecha, Ex-Parlamentarier Anton Gaal (beide SPÖ), Ex-Wirtschaftsminister Martin Bartenstein (ÖVP) und die FPÖ-Abgeordneten Harald Vilimsky und Johannes Hübner genannt.

  • 1. November 2013: Alijew – ursprünglich vertreten von Anwalt Wolfgang Brandstetter, dem späteren Justizminister, wird der österreichische Fremdenpass entzogen.

  • 19. Mai 2014: Die Staatsanwaltschaft erlässt einen Haftbefehl.

  • 6. Juni 2014: Alijew wird festgenommen und kommt in U-Haft.

  • 30. Dezember 2014: Mordanklage wird eingebracht.

  • 24. Februar 2015: Alijew wird tot in seiner Zelle aufgefunden.

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