Da müssen die Russen im 21. Jahrhundert durch

Wladimir Putin in Novosibirsk.
Wladimir Putin in Novosibirsk.(c) imago/ITAR-TASS (Mikhail Metzel)
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Putin ist ein genialer Populist. Aber wo steht sein Volk eigentlich? Mit den drei Mammutaufgaben, die es vor sich hat, wird es wohl 100 Jahre beschäftigt sein.

Was die russische Onlinezeitung meduza.io anlässlich der Wiederwahl Wladimir Putins im März auf ihre Seite gestellt hat, ist simpel und unterhaltsam zugleich. Der User kann jenen Teil seiner Lebenszeit berechnen, den er unter Putins Herrschaft zugebracht hat und bis zum Ende seiner am Montag beginnenden, vierten Amtszeit 2024 zubringen wird. Der vorwiegend liberalen Leserschaft wird damit suggeriert, wie viel Last sie zu ertragen hat.

In der Sache ist das etwas unredlich. Natürlich sind Wahlen in Russland nur bedingt demokratisch. Aber die Annexion der Krim 2014 hat gezeigt, dass nicht nur die konservative bis reaktionäre Mehrheit seine Politik unterstützte, sondern plötzlich auch die urbane Mittelschicht, die als liberal und westlich einzustufen war (obwohl sie nicht alle westlichen Wertestandards teilte!). Anders wäre Putins haushohes Rating seit damals nicht erklärbar. Bei den Wahlen am 18. März wiederholte sich das Phänomen: Erzielte er 2012 nur 46,9 Prozent der Stimmen in Moskau und 58,8 Prozent in Sankt Petersburg, so diesmal 71,1 respektive 75 Prozent.

Unter anderem wirkte sich hier der „Krim-Faktor“ aus. Laut Meinungsforschungsinstitut Levada-Center haben noch im März 86 Prozent der Bevölkerung die Annexion goutiert (2014: 88 Prozent). Und auch in Moskau sind es 79 Prozent.

Westliche Beobachter wollen es nicht wahrhaben: 2014 ist die russische Mittelschicht ins antiwestliche und imperialistische Lager gedriftet. Und ihre Rückkehr in die Mitte wird eine Mammutaufgabe. Immerhin ist sie binnen zehn Jahren zu schaffen. Eine andere wird mehr Zeit brauchen: die historische Epoche der Aufklärung, die in Russland nie stattfand, zu vollziehen. Vorausgesetzt, das Land will zu westlichen Standards aufschließen, wie ja behauptet wird (Premier Dmitrij Medwedjew sagte einst, nur „eine Gesellschaft freier Menschen“ könne das Land modernisieren).

Erst mit der Aufklärung würde das Individuum über das Kollektiv gestellt. Und sie ginge gemäß Immanuel Kants Losung mit dem Mut einher, sich des eigenen Verstandes zu bedienen – und so auch andere Sichtweisen auf Russlands Weg zu entwickeln. Derzeit hält die absolute Mehrheit Putins Ansichten für sakrosankt. Der Kremlchef verkörpert nur ein landesweites Phänomen. Auch die orthodoxe Kirche spielt das Spiel der Subordination, indem sie sich systemstabilisierend mit dem Staat identifiziert und als Bewahrerin des reinen, von philosophischer Logik und aufklärerischer Zersetzung verschonten Christentums sieht.

Jahrhunderte der Verhinderung von Mündigkeit und Individualismus prägen. Als ein Oligarch vor einigen Jahren sein Stahlwerk modernisieren wollte und auch einen älteren Ingenieur um Rat fragte, schwieg der Gefragte, weil er die Präferenz des Chefs nicht kannte. „Jahrzehnte institutionalisierter Meinungslosigkeit“, bedauerte der Oligarch.

Noch eine dritte Mammutaufgabe steht vor den Russen: die Überwindung der aus der dualistischen Sowjetrealität kommenden Unfähigkeit zum Kompromiss, auf die der soeben verstorbene Historiker und Menschenrechtler Arsenij Roginskij hingewiesen hat. „In unserer Mentalität ist die Kompromisslosigkeit kodiert als Prinzip richtigen Verhaltens“, schreibt er: „Das Ergebnis war, dass sich niemand mit den andern verständigen konnte.“ Die Gräben sind omnipräsent, nicht nur zwischen Opposition und Machthabern, auch innerhalb der Opposition, wie die Wahlen wieder gezeigt haben. Roginskijs Fazit ernüchtert: „In Russland wird es keine Demokratie geben, solange sich das Bewusstsein nicht verändert.“ Aber um das Individuum gegenüber dem Staat zu stärken, seien „Jahrhunderte nötig. Vielleicht verändert sich die Welt heutzutage ja schneller. Dann reichen hundert Jahre“.

Wie als Westen adäquat reagieren? Die versuchte Ausfuhr unseres gesellschaftlichen und demokratischen Status quo in seiner Totalität ging daneben. Ein dosierter Export in dem Maß, wie er nachgefragt wird, wäre effizienter. Und es ist geholfen, wenn wir die Verinnerlichung unserer Standards von jenen fordern, die aus voraufklärerischen Gesellschaften wie Russland zu uns kommen.

E-Mails an: eduard.steiner@diepresse.com

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