Wenn heute die Wahl des Bürgermeisters in Istanbul wiederholt wird, dann geht es um mehr als das Amt. Die Stadt steht symbolhaft für die wechselhafte Geschichte des Landes.
Der Film mit den gelegentlich verwackelten Kameraaufnahmen und dem Hintergrundrauschen der 1960er-Jahre beginnt mit der Einfahrt des Zugs in den alten, imperialen Bahnhof Haydarpaşa. Dort steigt er aus, begibt sich zu den Stufen am Eingang und inspiziert von hier aus, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, die Wildnis der Stadt zu seinen Füßen. Später, im Dampfer, zählt er die Sehenswürdigkeiten auf. „Hey, Istanbul“, sagt er dann selbstbewusst, „wenn ich nicht Herr über dich werde, sollen sie mich nicht Kemal nennen!“
Kemal, ein Zugezogener aus Anatolien. Seine Geschichte erzählt der weiland beliebte Film „Gib mir deine Hand, Istanbul“ des Regisseurs Aydın Arakon, aber so, wie Kemal in Haydarpaşa ankommt, so beginnt in Istanbul nahezu jede moderne Familienbiografie. „Mit 15 Jahren“, erzählt der heutige Staatspräsident, Recep Tayyip Erdoğan, gern die Geschichte seines Vaters, Ahmet, „kam er nach Istanbul, um für seinen Unterhalt zu sorgen.“ Der Präsident selbst wuchs im damals rauen Zuwandererviertel Kasımpaşa auf, von hier aus eroberte er bekanntermaßen das ganze Land. Wenn an diesem Sonntag die Bürgermeisterwahl in Istanbul auf Geheiß der AKP wiederholt wird, dann geht es um nichts weniger als das. „Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei“, lautet ein geflügeltes Wort, und es kennzeichnet die politische Schlacht um die bevölkerungsreichste Stadt des Landes – das ist nicht erst seit Erdoğan der Fall.