Geleakte Regierungsdokumente belegen, wie die kommunistische Führung in der muslimischen Unruheprovinz Xinjiang im großen Stil Umerziehungslager errichtet hat.
„Verleumderisch“, „pure Erfindung“, – das offizielle China reagierte wütend auf die Veröffentlichung geheimer Regierungspapiere, welche die Existenz gigantischer Gefangenenlager für Uiguren in der Unruheprovinz Xinjiang belegen. Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten Fakten:
1. Worum handelt es sich bei den „China Cables“?
Experten der UNO schlagen bereits seit Monaten Alarm, dass sich rund eine Million muslimischer Uiguren – eine der 56 Volksgruppen Chinas – in Internierungslagern in der westchinesischen Provinz Xinjiang befinden. Zunächst jedoch hat die chinesische Regierung deren Existenz abgestritten, später diese als freiwillige „Berufsbildungszentren zur Bekämpfung des Terrorismus“ ausgegeben. Bisher stützten sich die Belege unabhängiger Experten vornehmlich auf Augenzeugenberichte ehemaliger Inhaftierter sowie auf Satellitenaufnahmen.
Nun wurden dem „International Consortium of Investigative Journalists“ von Exil-Uiguren vertrauliche Regierungsdokumente zugespielt – darunter eine ausführliche Anleitung der Kommunistischen Partei zum Betrieb der Internierungslager, wo Inhaftierte ein Jahr oder länger verschwinden. Vor einer Woche hatte die „New York Times“ ebenfalls interne Papiere der Regierung über die Masseninhaftierungen in Xinjiang publiziert.
2. Wieso geht China systematisch gegen die Uiguren vor?
Die Uiguren zählen zu den Turkvölkern, ihre Heimatprovinz ist die autonome Region Xinjiang, die aufgrund ihres Ressourcenreichtums und der strategischen Lage entlang der alten Seidenstraße von wirtschaftlich immenser Bedeutung für China ist. Seit Jahrzehnten strebt die KP eine Assimilierungspolitik in Xinjiang an: Systematisch werden Han-Chinesen angesiedelt.
Viele Uiguren erleben die chinesische Regierung als Besatzungsmacht, die sie kulturell unterdrückt und wirtschaftlich ausbeutet. Unzählige Moscheen wurden in den letzten Jahren geschlossen, muslimische Friedhöfe zerstört.
Die KP hingegen wertet den zunehmenden Extremismus unter den Uiguren als Gefahr für die innere Stabilität. Tatsächlich haben in den letzten Jahren immer wieder uigurische Separatisten Terroranschläge begangen. Im Frühjahr 2014 lenkten drei Uiguren ihr Auto in eine Menschenmenge am Platz des Himmlischen Friedens in Peking und töteten dabei fünf Personen. Wenige Tage später stürmten maskierte, mit Messern bewaffnete Uiguren den Bahnhof in der südchinesischen Stadt Kunming und erstachen rund 30 Menschen. Chinas Staatsmedien sprachen damals von einem „11. September Chinas“. Experten gehen davon aus, dass sich mehrere hundert Uiguren aus Xinjiang demsogenannten „Islamischen Staat“ angeschlossen und zeitweise in Syrien und im Irak gekämpft haben.
3. Wie geht die Regierung gegen Uiguren vor?
Die Internierungslager für die Uiguren sind de facto Gefängnisse. Aus den „China Cables“ geht hervor, dass die Zimmer und Gänge dort strengstens abgesperrt werden und Ausbrüche „auf keinen Fall“ vorkommen dürfen. Dies widerlegt das Narrativ der Kommunistischen Partei, die von Berufsbildungszentren spricht, deren Besuch freiwillig erfolge. Laut Schätzungen internationaler Experten sitzt etwa jeder zehnte Uigure in einem solchen Lager – ohne Prozess oder rechtlichem Beistand. Die chinesische Bevölkerung weiß hingegen nichts von den Lagern. In den Medien wird nicht darüber berichtet, Kommentare auf sozialen Medien werden rasch gelöscht.
Laut Zeitzeugenberichten sind die Verhaftungen oftmals willkürlich: Uiguren machen sich bereits verdächtig, wenn sie Gelder an ihre Moschee spenden oder Telefonanrufe ins Ausland tätigen. In den Lagern müssen die Inhaftierten tägliche Ideologiekurse über sich ergehen lassen und sind auch Folterstrafen ausgesetzt.
Zudem hat China mithilfe künstlicher Intelligenz und Videotechnik die Provinz Xinjiang in einen Überwachungsstaat verwandelt. Wer etwa die Stadt Kashgar besucht, sieht zudem quasi an jedem Straßenblock patrouillierende Soldaten und Militärblockaden.
4. Inwiefern hat Europa mit dem Konflikt zu tun?
Zwar kritisiert die Europäische Union wiederholt die Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang, doch gleichzeitig blüht das Business. Der amerikanische China-Forscher Benjamin Haas hat in einer Studie für das MERICS Institut Berlin herausgefunden, dass rund die Hälfte der größten 150 Firmen aus Europa Geschäftsbeziehungen zu Xinjiang unterhalten. Oftmals geschieht dies auf Anraten der Regierung Pekings, die die Provinz im Nordwesten wirtschaftlich entwickeln möchte.
Besonders Siemens ist dabei in die Kritik geraten. Schließlich führt der Mischkonzern ein Kooperationsabkommen mit derChina Electronics Technology Group – einem Militärlieferanten, dessen Überwachungs-App laut der NGO Human Rights Watch benutzt wird, um Uiguren zu inhaftieren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2019)