Diaspora

Tschetschenen in Österreich: Schwierige Suche nach Normalität

Junge Männer in Wien
Junge Männer in WienClemens Fabry
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Die Community hat in den letzten 20 Jahren hierzulande Fuß gefasst. Politische Konflikte aus der Heimat und Probleme der Jugend erschweren das Ankommen in Österreich.

Nach dem Mord an dem gebürtigen Tschetschenen Mamichan U. (Martin B.) herrscht in der tschetschenischen Community in Wien Sorge um die eigene Sicherheit. Der Mord in Gerasdorf ist nicht der erste, der die Diasporagemeinde erschüttert. Seitdem im Jahr 2009 der Asylwerber Umar Israilow in Wien-Floridsdorf erschossen wurde, ist unter Exil-Tschetschenen das Misstrauen gestiegen, ob man in Österreich vor den Gefahren aus der früheren Heimat sicher sei. Beziehungsweise ob einen die Behörden im Gefahrenfall schützen. „Kritik an Kadyrow gilt als gefährlich“, sagt Tschetschenen-Vertreter Hussein Ischanow zur „Presse“. „Viele wollen sich öffentlich dazu nicht äußern.“ Auch bei der für Dienstagnachmittag angemeldeten Demonstration bei der Russischen Botschaft könnten Tschetschenen aus Furcht fernbleiben. Denn Anhänger des Kadyrow-Regimes beobachten solche Anlässe genau.

Der Mord in Gerasdorf rückt die Aufmerksamkeit wieder einmal auf die Tschetschenen in Österreich. Viele von ihnen sind als Kriegsflüchtlinge in den letzten 20 Jahren nach Österreich gekommen. Das Verhältnis zwischen tschetschenischer Community und österreichischer Mehrheitsgesellschaft ist ein angespanntes. Oder wie ein tschetschenischer Taxifahrer in Wien einmal sagte: „Wenn ich erzähle, dass ich Tschetschene bin, kriegen viele Kunden einen Schreck.“ Die Community gilt als verschlossen. Umgekehrt weiß die Öffentlichkeit wenig über die Tschetschenen.

Aus Medienberichten kennt man die Community – bzw. ihre jungen, männlichen Vertreter – vor allem als Quell von Problemen: Burschen, die mit islamistischem Gedankengut sympathisieren, sich Terrororganisationen anschließen oder Schlägereien mit anderen Migrantengruppen anzetteln. Tschetschenen dagegen fühlen sich durch vorwiegend negative, sensationslüsterne Berichterstattung unfair behandelt und stigmatisiert.

Was tun mit der Jugend?

In der tschetschenischen Community gibt es durchaus Bewusstsein dafür, dass die junge Generation der familiären Kontrolle entgleitet. Und Ratlosigkeit, was man dagegen tun könnte. Denn Werte wie Ehre, Strenge und Verteidigungsbereitschaft sowie enge Familiennetzwerke spielen in der Selbstwahrnehmung noch immer eine große Rolle. Sie haben die einstigen Bergbewohner aus dem Nordkaukasus jahrhundertelang vor äußeren Gefahren geschützt. Aber jetzt im Exil?

Vertreter der Gemeinde kritisieren, dass es den Tschetschenen an eigenen kulturellen Orten mangle. Ischanow, der den Kulturverein „Itschkeria“ leitet und unter anderem interkulturelle Veranstaltungen zwischen Afghanen und Tschetschenen durchführt, setzt sich seit Jahren für ein Kulturzentrum ein. „Ein fixer Ort würde uns die Arbeit mit der Jugend erleichtern“, sagt er. Das Problem: Mangel an Finanzierung und politischer Unterstützung.

Lebensmittelläden und Handywerkstätten

Während bei Tschetschenen der älteren Generation oft mangelnde Deutschkenntnisse die Teilnahme am öffentlichen Leben erschweren, haben ihre Kinder österreichische Schulen besucht und studieren mittlerweile an den Universitäten. In österreichischen Großstädten ist eine tschetschenische Infrastruktur entstanden: Internetcafés, Handy-Reparaturwerkstätten, Marktstände und Lebensmittelläden mit Produkten aus der früheren Heimat versorgen die Community.

Die Kommunikation mit Verwandten und Bekannten ist dank digitalen Technologien viel einfacher geworden als früher. Die Community ist auf viele europäische Länder verstreut – und damit auch europaweit vernetzt. Tschetschenische Blogger – wie etwa Tumso Abdurachmanow in Schweden – werden breit rezipiert. Die Beziehung zur alten Heimat besteht indes für viele Exilanten durch Familiennetzwerke vor Ort weiter: Diasporaangehörige reisen im Sommer zu Besuch nach Tschetschenien – obwohl das Flüchtlingen und Asylwerbern per Gesetz eigentlich untersagt ist. Die österreichischen Behörden gehen in letzter Zeit verstärkt gegen diese Praxis durch Androhung von Asyl-Aberkennung vor.

Konflikte aus der Heimat

Die politischen Spaltungen aus der kriegsgeplagten Heimat finden nach wie vor ein Echo in den Aufnahmeländern – das zeigt nicht zuletzt der Mord in Gerasdorf. Anhänger des Kadyrow-Regimes stehen Befürwortern einer tschetschenischen Unabhängigkeit gegenüber. Dazu kommt der islamistische Flügel, der allerdings durch die weitgehende militärische Niederschlagung der radikalislamischen Aufständischen im Nordkaukasus seinen ursprünglichen Orientierungspunkt verlor. Mit dem Erstarken des Islamischen Staates (IS) verlagerte sich die Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten als Austragungsort des „gerechten Krieges“. Mit dem Niedergang des IS stellte sich die Frage der Rückkehr der Kämpfer – auch in Österreich.

Die tschetschenische Diaspora in Österreich ist in den letzten beiden Jahrzehnten rasant angewachsen. Die Zahl der Tschetschenen wird auf über 30.000 geschätzt, mehr als die Hälfte dürfte in Wien wohnen. Viele besitzen bereits einen österreichischen Pass. In der Ausländerstatistik werden Tschetschenen wiederum nicht extra ausgewiesen, da Tschetschenien eine Teilrepublik der Russischen Föderation ist. Jedenfalls waren in Österreich im laufenden Jahr mehr als 32.000 russische Staatsangehörige gemeldet – viele von ihnen dürften tschetschenische Wurzeln haben.

Die Zahl der Asylanträge aus Russland ist indes in den letzten Jahren zurückgegangen. 2019 zählte man 723 Anträge. Russland firmierte damit auf dem sechsten Platz hinter Ländern wie Afghanistan, Syrien, Somalia, Irak und Iran. Die Anerkennungsrate hat sich im Vergleich zu früher verringert: 35 Prozent wurden im Vorjahr positiv bearbeitet.

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