Türkei

Der zerbrochene Traum der EU-Mitgliedschaft

Das praktische Ende des Beitrittsprozesses verändert den Blick Ankaras auf die Union. Die Ausrichtung auf Europa ist einem neuen Selbstverständnis gewichen, das die Türkei als Machtzentrum definiert.

Istanbul. Die blaue Europafahne wehte neben der Flagge der Türkei, Bürokraten und Sicherheitsbeamte in dunklen Anzügen liefen aufgeregt hin und her, es gab feierliche Musik und viele lachende Gesichter: Als der damalige türkische Ministerpräsident, Recep Tayyip Erdoğan, im Dezember 2009 im Istanbuler Stadtteil Ortaköy am Bosporus den Sitz des türkischen EU-Ministeriums einweihte, herrschte trotz etlicher Probleme zwischen Ankara und Brüssel noch Zuversicht vor.

Inzwischen ist davon nichts mehr übrig. Der türkische Beitrittsprozess ist praktisch am Ende, der Blick der Türkei auf Europa und die Welt hat sich grundlegend gewandelt – und die damals eingeweihte Vertretung des türkischen EU-Ministeriums ist heute eine Shisha-Bar. In Ortaköy ist der türkische Schwenk von West nach Ost vollendet.

„Nur eine Zivilisation“

Europa war einmal ein Traum für die Türken. Staatsgründer Atatürk hatte die junge Republik in den 1920er- und 1930er-Jahren auf das Ziel Europa ausgerichtet. „Es gibt verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation: die europäische“, schärfte Atatürk seinen Landsleuten ein. Atatürk führte den westlichen Kalender und die lateinische Schrift ein, westliche Hüte ersetzten den osmanischen Fez, das Zivilrecht der Republik wurde aus der Schweiz importiert. Deutsche Akademiker, die vor den Nazis fliehen mussten, bauten in der Türkei Universitäten und Orchester auf. 1963 bewarb sich das Land zum ersten Mal um die Aufnahme in die Gemeinschaft westeuropäischer Staaten.

Seitdem warten die Türken vor der Tür. Erdoğans Reformphase in den ersten Jahren nach seinem Machtantritt im Jahr 2003 ermöglichte zwar die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU. Doch das Zypern-Problem, der erlahmende Reformschwung in Ankara und vor allem die Abneigung vieler EU-Staaten gegenüber der Türkei brachten den Prozess zum Stillstand.

Spätestens Erdoğans drakonisches Vorgehen gegen seine Kritiker seit dem Putschversuch von 2016 hat alle Aussichten auf ein baldiges Wiedererwachen des EU-Beitrittsprozesses zerstört. Wenn Erdoğan heute über die Europäische Union redet, schimpft er meistens über die Europäer, die nach dem Putsch seinen Gegnern politisches Asyl gewährten und im Streit um Gas und Grenzen im östlichen Mittelmeer immer nur zu den Griechen halten.

Eigene Interessen

Türkische EU-Anhänger richten sich auf eine lange Eiszeit ein. „Mein Herz schlägt eigentlich für einen türkischen EU-Beitritt“, sagt die Politologin Ebru Turhan, die an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul unterrichtet. „Das wäre die beste Option, aber unter den jetzigen Bedingungen sieht es sehr schwierig aus.“

Die Ausrichtung auf Europa ist einem neuen Selbstverständnis gewichen, das die Türkei als eigenes Machtzentrum definiert. Ab sofort zählten West und Ost nicht mehr – es gebe nur noch die Türkei, sagte Erdoğans Schwiegersohn und Finanzminister, Berat Albayrak, Ende August nach der Entdeckung reicher Erdgasvorräte vor der türkischen Schwarzmeerküste. Erdoğans Regierung sieht die Türkei als Regionalmacht, die eigene Interessen auch da verfolgt, wo sie mit denen der EU kollidieren. Im März schockte Ankara die EU, indem sie Flüchtlinge zur Landgrenze mit Griechenland schickte.

In einem Bereich legt die Türkei aber nach wie vor großen Wert auf die Europäische Union: Sechs der zehn wichtigsten Exportpartner der türkischen Wirtschaft sind europäische Staaten. Das ist auch wichtig für die Türkei, um ihr Handelsbilanzdefizit zu reduzieren. So lieferte die Türkei im vergangenen Jahr Waren im Wert von knapp 1,8 Milliarden Euro nach Österreich, das waren 5,2 Prozent mehr als im Vorjahr und rund 600 Millionen Euro mehr als die Importe aus Österreich.

60 Prozent für einen Beitritt

Politisch ist der Blick der Türken auf Europa aber sehr nüchtern geworden. Zwar halten 60 Prozent der Türken nach einer Umfrage am Ziel des EU-Beitritts nach wie vor fest; unter den jungen Wählern ist die Zustimmung mit 66 Prozent (erwartungsgemäß) besonders groß. Doch nur 23 Prozent der Befragten glauben, dass ihr Land eines Tages tatsächlich einmal Mitglied der EU sein wird. Die türkischen Erwartungen an die EU beziehen sich deshalb weniger auf den fernen Traum des Beitritts, sondern vielmehr auf konkrete Dinge wie die Forderung nach visafreien Reisen.

Auch ohne Beitrittsperspektive werden die türkisch-europäischen Beziehungen spannend bleiben, meint Politologin Turhan. „Das Thema wird sehr viele Akademiker in den nächsten fünf bis zehn Jahren beschäftigen. Denn es wird nicht leicht sein, ein Modell für die Zukunft der Türkei-EU-Beziehungen zu finden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2020)

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