Auswanderung gegen Einwanderung

Massenexodus in den reichen Westen

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Die armen Länder Südosteuropas können ihre jungen, gut ausgebildeten Menschen nicht halten.

Wien. Europa schrumpft – und es altert. Bis zum Jahr 2070, so lauten die Prognosen, geht die Zahl der EU-Bürger um 23 Millionen Menschen zurück, während der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von 20 auf 30 Prozent steigen wird. Dies hat Auswirkungen auf Sozialsysteme, Wohnungsmarkt, Infrastrukturbedarf und die Gesellschaft als Ganzes – doch freilich nicht für alle Mitgliedstaaten in gleichem Ausmaß: Betroffen sind vor allem jene, die eine überdurchschnittlich hohe Auswanderung der heimischen Bevölkerung zu beklagen haben. Dazu zählen in der EU insbesondere Bulgarien, Rumänien, Kroatien und Griechenland. Hunderttausende Südosteuropäer haben ihre Heimat in den vergangenen Jahren Richtung Westeuropa verlassen. Ihnen stehen Deutschland, Österreich, Spanien und Italien als beliebte Einwanderungsländer gegenüber.

Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind vielfältig: Denn besonders die für den Arbeitsmarkt wichtigen jungen, gut ausgebildeten Menschen wandern ab. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft im reichen Westen. Viele Branchen beklagen seit Jahren einen dramatischen Fachkräftemangel. Auch die schnelle Alterung der Bevölkerung stellt ein Problem dar: Pensions,- Sozial- und Gesundheitssysteme in den ohnehin armen Ländern Südosteuropas drohen zu kollabieren, da sie nicht mehr finanzierbar sind. Zu allem Überdruss liegt auch die Geburtenrate unter dem europäischen Schnitt: In Bulgarien und Kroatien war sie im Jahr 2018 gar EU-weit am niedrigsten, während Irland, Schweden und Frankreich die meisten Geburten pro Einwohner in der EU verzeichneten.

Hunderttausende wandern aus

Nach Schätzungen der Bukarester Regierung leben insgesamt bereits mehr als zwei Millionen Rumänen im Ausland, die meisten davon in Spanien und Italien. Derweil haben 700.000 Bulgaren in anderen EU-Ländern ein neues Zuhause gefunden. In Griechenland begann der große Exodus mit der Finanzkrise 2010: Mindestens 400.000 Menschen suchten seither im EU-Ausland ein besseres Leben. Und selbst Ungarn – eines der wirtschaftlich am besten entwickelten Länder der Region – fand sich nach der globalen Finanzkrise in einer Emigrationswelle wieder, während derer allein bis 2017 über 200.000 Menschen das Land verließen.

Für Tado Jurić, Politologe und Bevölkerungsexperte an der Katholischen Universität in Zagreb, stellt der Massenexodus junger Menschen aus Südosteuropa eine Katastrophe dar: Deutschland und andere westliche EU-Länder sollten ihre demografischen Probleme nicht durch Zuwanderung zu lösen versuchen, kritisierte er gegenüber der DPA. „Ich halte es für unfair, dass sich Deutschland auf unser aller Kosten selbst rettet.“ Die EU müsse sich mit dem Problem der „unfairen Migration“ befassen, fordert Jurić. Und: „Wenn diese Trends andauern, wird dieses Land Kroatien verschwinden.“ Der Befund für Bulgarien, Rumänien oder Griechenland sieht aus seiner Sicht kaum rosiger aus.

Tatsächlich sind die westlichen EU-Länder von der Abwanderung aus Südosteuropa abhängig. Denn Zuwanderer übernehmen Arbeiten auf dem Bau, in der Pflege und der Gastronomie, die heimische Arbeitskräfte oft nicht annehmen wollen.

Auch Österreich profitiert stark. Allein zwischen 2008 und 2018 sind 850.000 Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten ins Land gekommen. Das wichtigste Herkunftsland bleibt Deutschland, doch auch aus Bulgarien, Rumänien und Kroatien ist die Zuwanderungsrate hoch.

Bedeutung für Arbeitsmarkt ist enorm

Die Bedeutung für den heimischen Arbeitsmarkt ist enorm. Laut dem österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung werden allein im Bereich der mobilen und stationären Pflege bis zum Jahr 2030 mindestens 24.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt, bis 2050 sind es gar 80.000. Besonders viele Pflegekräfte – knapp 30.000 pro Jahr – kommen aus Rumänien. Auch Gastgewerbe, Baubranche und Landwirtschaft sind Sektoren, in denen EU-Zuwanderer gebraucht werden, die bereit sind, auch saisonale Engagements zu übernehmen – auf Kosten der Herkunftsländer, die der Abwanderung der jungen Generation nichts entgegenzusetzen wissen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2020)

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