Brexit-Deal

EU rüstet sich für ein Scheitern des Brexit-Handelspakts

Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch in Brüssel.
Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch in Brüssel.APA/AFP/POOL/OLIVIER HOSLET
  • Drucken

Das Brexit-Dinner von Johnson und von der Leyen in Brüssel brachte keine Fortschritte. Jetzt will man sich vorbereiten. Notmaßnahmen sehen vor, dass etwa der Flugverkehr sechs Monate aufrechterhalten werden soll.

Die Europäische Union rüstet sich für ein Scheitern der Verhandlungen über den Brexit-Handelspakt, um das befürchtete Chaos zur Jahreswende abzumildern. Es geht unter anderem darum, Flug- und Straßenverkehr sowie die Fischerei aufrecht zu erhalten, wie die Brüsseler Behörde am Donnerstag mitteilte.

"Die Verhandlungen laufen noch, aber das Ende der Übergangsfrist ist nahe", schrieb Kommissionschefin Ursula von der Leyen auf Twitter. Es gebe keine Garantie für einen Vertrag. "Wir müssen vorbereitet sein - auch darauf, dass am 1. Jänner kein Vertrag in Kraft ist."

Transporte für sechs Monate weiterhin möglich

Die Notmaßnahmen für diesen Fall enthalten einen Vorschlag, um bestimmte Flugverbindungen zwischen Großbritannien und der EU für sechs Monate aufrecht zu erhalten - basierend auf Gegenseitigkeit mit Großbritannien. Auch für die Anerkennung von Sicherheitszertifikaten für Flugzeuge soll es eine Übergangsregel geben, damit diese nicht in der EU stillgelegt werden müssen.

Eine ähnliche Regelung auf Gegenseitigkeit soll es geben, um Frachttransporte und Passagierverkehr aufrecht zu erhalten, ebenfalls für sechs Monate.

Für das politisch sehr umstrittene Thema Fischerei schlägt die EU-Kommission einen Rechtsrahmen vor, der bis 31. Dezember 2021 gelten soll - oder bis zu einem Fischereiabkommen mit Großbritannien. Diese Vereinbarung soll den Zugang von britischen Fischkuttern in EU-Gewässer regeln und umgekehrt. Die Kommission werde eng mit dem Europaparlament und dem Ministerrat zusammenarbeiten, um die Regelungen noch vor dem 1. Jänner 2021 in Kraft zu setzen.

Mehrere EU-Staaten hatten die Kommission immer wieder gedrängt, diese Notfallmaßnahmen voranzutreiben. Die Kommission hatte dies hinausgezögert. Jetzt begründete sie den Vorstoß mit der großen Unsicherheit, ob bis 1. Jänner ein Handelsabkommen in Kraft ist, das diese Maßnahmen unnötig machen würde.

Büsseler Abendessen ohne Ergebnis

Das dreistündige Gespräch von Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwochabend in Brüssel brachte keinen Durchbruch. Vielmehr stellten beide Seiten im Streit über den Brexit-Handelspakt anschließend weiterhin große Differenzen fest. Die Europäische Union und Großbritannien geben sich eine letzte Frist bis Sonntagabend.

Die Verhandlungsteams sollen sofort wieder zusammenkommen und versuchen, die Knackpunkte binnen vier Tagen doch noch zu lösen. Die EU-Kommission erklärte: "Wir haben ein klares Verständnis der jeweils anderen Position bekommen. Sie bleiben weit auseinander." Bis zum Ende des Wochenendes werde man aber "zu einer Entscheidung kommen", sagte von der Leyen nach dem Treffen.

Aus britischen Regierungskreisen hieß es, sei immer noch unklar, ob eine Einigung zustande komme. Premierminister Johnson wolle aber nichts unversucht lassen, um Wege zum einem möglichen Deal zu testen.

Knackpunkte: Fischerei und fairer Wettbewerb

Johnson und von der Leyen hatten sich zu einem Dinner in Brüssel verabredet, um die verbliebenen Streitpunkte bei den Verhandlungen über ein Handelsabkommen für die Zeit nach dem Ablauf der Brexit-Übergangsphase zu besprechen und möglichst auszuräumen. Das sind die Fischerei, fairer Wettbewerb und die Frage nach der Durchsetzbarkeit der Vereinbarungen.

Es war bereits das dritte Gespräch der beiden, seit EU-Unterhändler Michel Barnier und sein britischer Kollege David Frost am vergangenen Freitag erklärt hatten, mit ihrem Verhandlungsmandat in eine Sackgasse geraten zu sein. Nachdem zwei Telefonate nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatten, sollte nun die persönliche Begegnung den Verhandlungen einen Schub verleihen.

Meinung

„Die Brexit-Show wird so lange weitergehen, bis Boris Johnson mutig genug ist, um zu entscheiden, ob er einen Deal mit Europa will - oder es lieber bleiben lässt“, schreibt Michael Laczynski.

Vertrag muss bis 31. Dezember stehen

Die Zeit drängt. An diesem Donnerstag und Freitag treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zu ihrem letzten Gipfel des Jahres. Ein Vertrag müsste bis zum 31. Dezember stehen, denn dann läuft die Brexit-Übergangsphase aus. Sollte noch ein Abkommen zustande kommen, müsste es im Europaparlament und im EU-Ministerrat ratifiziert werden. Auch im britischen Parlament wird nach derzeitigem Stand mindestens mit einer Abstimmung über den Handelspakt gerechnet.

Großbritannien hatte die EU Ende Jänner verlassen, doch bis zum Jahreswechsel bleibt noch alles beim Alten. Verhandelt wird über die Zeit danach. Ohne Vertrag drohen ab 1. Jänner Zölle und andere Handelshürden. Das könnte zu langen Staus auf der englischen Seite des Ärmelkanals und leeren Regalen in Supermärkten führen, wird befürchtet. Die Wirtschaft rechnet mit schweren Verwerfungen.

Irland-Frage ist gelöst worden

Einen Fortschritt hatte es am Dienstag immerhin gegeben: Die britische Regierung und die EU-Kommission einigten sich auf die Umsetzung des Nordirland-Protokolls aus dem Brexit-Abkommen. Damit ist die größte Sorge für den Fall eines No Deals weitgehend ausgeräumt. Das Protokoll soll sicherstellen, dass es nicht zu einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland kommt. Für diesen Fall war mit einem Wiederaufflammen des Konflikts in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet worden.

London hatte eingewilligt, umstrittene Passagen in einem Gesetzentwurf zu streichen oder zu ändern, die in Brüssel für viel Unmut gesorgt hatten. Das Binnenmarktgesetz sollte nach dem Willen Londons die Bestimmungen des Nordirland-Protokolls aushebeln und damit internationales Recht brechen.

Kanzler Kurz glaubt nicht an No-Deal-Szenario

Trotz der bestehenden Differenzen rechnet Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch mit einem Handelsabkommen. "Es gibt noch einige offene Fragen, aber ich glaube, dass Ursula von der Leyen und Boris Johnson in der Lage sein werden, diese letzten offenen Punkte zu lösen", sagte Kurz in einem Interview mit dem amerikanischen Sender CNN. "Ich glaube nicht, dass das Vereinigte Königreich und Boris Johnson wirklich ein No-Deal-Szenario wollen."

Kurz verteidigte in dem Interview vor dem am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel aber die harte Haltung der EU, die auf fairen Wettbewerbsbedingungen besteht, auch was künftige EU-Regulierungen betrifft, die Großbritannien akzeptieren müsste, um weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt zu haben. Aus der Sicht der EU sei der britische Wunsch, künftige Regulierungen nicht nachzuvollziehen, nicht akzeptabel, so Kurz in dem Interview.

"Das 'level playing field' (faire Wettbewerbsbedingungen, Anm.) ist eine der offenen Fragen, und ich würde meinen, dass es wahrscheinlich der wichtigste offene Punkt ist", sagte Kurz. "Ich hoffe, dass wir am Ende eine Lösung haben. Ich verstehe den Wunsch des Vereinigten Königreichs, aber ich denke, dass unsere Position als Europäische Union auch verständlich ist." Auch für andere Nicht-EU-Länder wie Norwegen oder die Schweiz würden dieselben Regeln gelten.

(APA/dpa/Reuters)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Bei Johnsons Ankunft in der EU-Kommission trat von der Leyen mit ihm für Fotos vor die Kameras. Beide nahmen kurz die Masken ab, bevor sie nach wenigen Sekunden hinter einer Türe verschwanden.
Brexit-Deal

Ursula von der Leyens Feuerprobe

Diese Woche entscheidet sich in den Brexit- und Rechtsstaatskrisen, ob die Kommissionspräsidentin ihre Kritiker Lügen straft und politische Führungsstärke beweist. Das Brexit-Dinner mit Boris Johnson brachte keinen Durchbruch.
Die britische Wirtschaftsministerin Liz Truss hat den Deal mit Kanada ausverhandelt und unterzeichnet.
Brexit

Großbritannien und Kanada unterschreiben Handelsvertrag

Wirtschaftsministerin Truss freut sich inmitten der entscheidenden Verhandlungen mit der EU über den Vertrag mit Kanada. "Handel im Wert von 20 Milliarden Pfund gesichert.“
Auf dem Weg zu einer Einigung? Der britische Premier Boris Johnson wird diese Woche in Brüssel erwartet.
Brexit

Boris Johnson bekommt sein Finale in Brüssel

Auf Kulanz darf der britische Premier bei seinem Treffen mit Kommissionschefin von der Leyen nicht hoffen. Berlin und Paris machen vorab klar, dass die EU sich nicht spalten lässt.
Boris Johnson.
Brexit

"Nicht ausgeschlossen, dass es mit einem Knall endet"

Vor dem heutigen Abendessen zwischen EU-Chefin van der Leyen und Boris Johson rückt eine Expertin das Bild vom britischen Premier zurecht. Das Last-Minute-Drama habe er immer eingeplant, es laufe alles nach seinem Geschmack.
Europaministerin Karoline Edtstadler.
Interview

Karoline Edtstadler: „Wollen eine Einigung mit London, aber nicht um jeden Preis“

Europaministerin Edtstadler zu den Spannungen in der EU, ihrer Kritik an Polen und Ungarn sowie ihrem Wunsch nach Einberufung einer Zukunftskonferenz.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.