Giftschlamm in Ungarn: "Unsere Orte sind totes Land"

Giftschlammkatastrophe Ungarn
Giftschlammkatastrophe Ungarn(c) REUTERS (LASZLO BALOGH)
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In der von rotem Schlamm einer Aluminiumfabrik zerstörten Region lassen viele Menschen die Hoffnung fahren. Betreiber „Magyar Alumínium“ (MAL) will etwa 300 Euro pro geschädigter Familie als Soforthilfe zahlen

Kolontar. „Uns hilft niemand, uns informiert niemand.“ Der etwa 50-jährige Landwirt in Trainingsanzug und Gummistiefeln aus dem Dorf Kolontar wirkt müde und desillusioniert. Eine rote Schlammlawine hat seinen Hof, seine Keller und Gärten überschwemmt. Alles ist hin. Und er weiß nicht, ob und wer ihm den Schaden ersetzt.

Die ätzende Brühe stammt aus dem am Montag geborstenen Speicherbecken des Bauxitwerks der nahen 35.000-Einwohner-Stadt Ajka. Das von Erdwällen umgebene Becken, das auf „Google Earth“ als rostrote Fläche am Westrand der Stadt zu erkennen ist, ist gut 1200 Meter von Kolontar entfernt. Dennoch strömte die Flut (angeblich flossen eine Million Kubikmeter „Rotschlamm“ aus und vermengten sich mit dem Wasser hochwasserführender Bäche) über Kolontar und weit darüber hinaus, mehrere andere Orte wurden ebenfalls getroffen. Kolontar liegt nördlich des Plattensees, ca. 150 Kilometer Luftlinie südöstlich von Wien.

Beim Kochen kam die Flut

„Ich war beim Kochen, als ich eine rote Flut sah“, erzählt Mária aus Devecser, westlich von Kolontár. Eineinhalb, zwei Meter sei sie hoch gewesen und habe sich träg fortbewegt. „Da hab ich meine fünf Kinder gepackt und bin gerannt, auf einen Hügel, wo wir sicher waren.“ Nun steht sie in Devecser und hat Säcke mit Windeln und Essen in der Hand, es sind Hilfsgüter. Sie und ihre Kinder wohnen bei einem Geistlichen, denn ihr Haus, sagt Mária, sei unbenutzbar. Schon jetzt haben zwei der Kinder Asthma, und das dürfte noch schlimmer werden: Denn wenn der Schlamm getrocken ist, wird der Wind den Staub mit sich tragen. Jetzt schon riecht es in der wie auf dem Mars rot gefärbten Landschaft rostig – das kommt vom hohen Eisenanteil im Schlamm.

Laut Ungarns Staatssekretär für Umweltschutz, Zoltán Illés, hat der Schlamm, der bei der Aluminiumerzeugung anfällt, auf mehr als 40 Quadratkilometern Flora und Fauna zerstört. Er erreichte den Fluss Marcal und dürfte weiter über die Raab in die Donau gelangen. Freilich verdünnt er sich mit wachsender Entfernung.

Verletzte im Militärspital

Bisher fand man vier Leichen, darunter zwei Kinder. Vermutlich starben in Kolontár unter dem Schlamm sechs weitere Menschen, mindestens 110 wurden verletzt, erlitten meist Verätzungen. Ungarns Staatspräsident Pál Schmitt besuchte in Kolontár die Angehörigen der vier Toten und später die Verletzten, die ins Militärspital in Budapest eingeliefert wurden. Hunderte Menschen zogen in Notunterkünfte oder zu Verwandten.

Beim Rathaus in Devecser werden rot gefärbte Tiere behandelt, Hunde, Katzen, Hühner. „Der Hund hier hat roten Schlamm erbrochen“, sagt ein Tierarzt und zeigt auf einen der typischen ungarischen Pulis mit dem Zottelfell, bei denen man vorn und hinten nicht unterscheiden kann. Die Tiere werden gewaschen, die Ätzwunden behandelt.

Hunderte Soldaten und Feuerwehrleute sind im Einsatz, durch Abwurf von Gips wird versucht, den basischen Schlamm zu neutralisieren. Er verpestet die Erde und bedroht auch das Grundwasser. Umweltschützer sagen, dass eigentlich das ganze Erdreich der Region abgetragen werden müsse, was aber aufgrund der Fläche kaum machbar sei. Und wenn, würde es Jahre dauern.

Viele Bewohner lassen die Hoffnung fahren: „Unsere Orte und Felder sind totes Land“, sagt ein Bauer. Landwirtschaft sei auch in der nächsten Generation unmöglich. Jeder solle am besten von hier verschwinden.

Die Betreiber der Aluminiumfirma, „Magyar Alumínium“ (MAL), behaupteten am Mittwoch, bei der Lagerung des Schlammes rechtmäßig verfahren zu haben. Ein Mitglied des Vorstandes behauptete, der Schlamm sei nicht giftig, worauf Innenminister Sándor Pintér meinte, der Manager könne ja „in der Brühe einfach baden“.

Laut Staatssekretär Illés besteht der Verdacht, das Depot sei überfüllt gewesen. Aus dem Umweltministerium in Österreich hieß es, dass für die Anlage ein Notfallplan vorliege, der von 300.000 Kubikmetern ausgehe. Die Behörden ermitteln wegen Fahrlässigkeit.

Die Häuser saugen sich voll mit Gift

Laut Umweltschutzorganisation WWF gebe es weitere überfüllte Rotschlammdepots in Ungarn sowie dem Donauraum, einige davon seien sogar völlig ungesichert.

Angeblich will MAL umgerechnet etwa 300 Euro pro geschädigter Familie als Soforthilfe zahlen. „Was soll ich mit fünf Kindern und einem kaputten Haus mit diesem Betrag?“, lacht Mária zynisch. Viele Häuser hier sind Lehmbauten, die sich mit der giftigen roten Flüssigkeit rettungslos vollsaugen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2010)

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