Mit einem Appell wandte sich Van der Bellen am Freitag an die Parteien: „Egoismen“ sollten „hintangestellt“ werden.
Es war die erste direkte Ansprache des Bundespräsidenten nach den Hausdurchsuchungen im Kanzleramt, Finanzministerium und der ÖVP-Parteizentrale: Nachdem sich Alexander Van der Bellen am Mittwoch nur kurz - im Rahmen einer Festrede - zur Regierungskrise geäußert hatte, nahm das Staatsoberhaupt am Freitagabend detaillierter zu den Vorwürfen gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Stellung. Durch diese droht der türkis-grünen Koalition nun ihr vorzeitiges Ende. Denn: Die Grünen wollen nur ohne Kurz weiterregieren, die ÖVP nur mit ihm.
„Ich habe versprochen, mich in schwierigen Zeiten immer direkt an Sie zu wenden“, sagte Van der Bellen in der Hofburg. Konkrete Anweisungen aber gab er weder der Regierung noch der Opposition. „Ich werde keine öffentlichen Ratschläge geben“. Dem Staatsoberhaupt ging es vielmehr darum, einmal mehr die „unerschütterliche Bundesverfassung“ als Garant für Stabilität zu loben: Mit Verweis auf das Platzen der türkis-blauen Regierung nach dem Ibiza-Video 2019 betonte der Bundespräsident: „Unsere Demokratie ist für alle möglichen Situationen gerüstet“. Wie diese in den folgenden Tagen aussehen könnten, konkretisierte er nicht. Die Varianten reichen aktuell von einer türkis-grünen Versöhnung (ohne Kurz), über eine Konzentrationsregierung aller anderen Parteien im Parlament bis hin zu Neuwahlen.
Ohne einen Fahrplan vorzugeben, versuchte Van der Bellen lediglich zu beschwichtigen. „Mit Sicherheit nicht“ werde die Republik „aus dem Gleichgewicht“ kommen. Nach den „sehr ungewöhnlichen Vorgängen“ am Mittwoch handle es sich aktuell nicht um eine Staatskrise, sondern „allenfalls“ um eine Regierungskrise.
Kritik an „Sittenbild“ und „Respektlosigkeit“
Das Staatsoberhaupt betonte in seiner Rede wiederum die Unschuldsvermutung, die für Kurz gelte. Ihm wirft die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) aktuell Bestechlichkeit und Untreue vor. Es sei die Aufgabe der Justiz den Vorwürfen nachzugehen, sagte Van der Bellen. Sie solle „Belastendes und Entlastendes“ gleichermaßen ermitteln. Allerdings: „Wir wissen derzeit nicht, ob die Ermittlungen zu Anklagen führen“. Mit „Argusaugen“ und „allem, was mir zur Verfügung steht“ wolle Van der Bellen inzwischen über die Integrität der Institutionen, allen voran der Justiz, wachen.
Das „Sittenbild“ und die „Respektlosigkeit“ gegenüber dem Rechtsstaat, die die Chats, aber auch aktuelle Wortmeldungen (von ÖVP-Politikern), zutage gebracht hätten, verurteilte der Bundespräsident scharf. „Ich habe andere Erwartungen an Politiker“, sagte er. Womit er eindeutig auf die ÖVP Bezug nahm, die wiederholt von „haltlosen“ Vorwürfen und „linken Zellen“ in der WKStA sprach.
Mahnende Worte richtete der Bundespräsident aber nicht nur an die ÖVP, sondern auch an die Oppositionsparteien, die am Dienstag in einer Sondersitzung im Parlament dem Kanzler ihr Misstrauen aussprechen wollen: „Ich erwarte mir, dass alle handelnden Personen an das Wohl Österreichs denken.“ Parteiinteressen sollen „hintangestellt“ werden. Nun sei keine Zeit für „Egoismen“. Van der Bellen appellierte an alle Verantwortungsträger: „Denken Sie nicht daran, was Sie kurzfristig für Ihre Partei herausholen können. Denken Sie daran, was Österreich braucht.“