Neuer Höhepunkt der Reisediplomatie in der Krise Russland–Ukraine. Derweil bahnt sich ein heikler Militärpakt zwischen Kiew, Warschau und London an.
Die Reise- und Telefondiplomatie auf höchster Ebene in der Russland–Ukraine-Krise erreichte am Dienstag neue Höhen: Die Regierungschefs Großbritanniens, der Niederlande und Polens – Boris Johnson, Mark Rutte, Mateusz Morawiecki – flogen zu Gesprächen nach Kiew. Italiens Premier, Mario Draghi, und Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, waren telefonisch mit Kreml-Chef Wladimir Putin verbunden, während Ungarns Premier, Viktor Orbán, zu diesem nach Moskau flog. Zum „Drüberstreuen“ telefonierte noch Russlands Außenminister, Sergej Lawrow, mit seinem US-Kollegen, Antony Blinken.
Inhaltliche Informationen waren vorerst dünn. Blinken verlangte den Abzug der russischen Armee von den Grenzen zur Ukraine: Wenn man nicht angreifen wolle, sei das ja unnötig, sagte er sinngemäß. Johnson twitterte vor der Ankunft in Kiew, dass sein Land „als Freund die Souveränität der Ukraine angesichts von Gegnern, die sie zerstören möchten, erhalten“ werde.
Wie das gehen soll, ist unklar. London schickte zuletzt zahlreiche Panzerabwehrraketen plus Ausbildner in die Ukraine, der Flugzeugträger HMS Prince of Wales steht bereit, zwei Schiffe der Royal Navy fahren ins Schwarze Meer, eine Verstärkung der britischen Kräfte in Estland und Polen steht bevor; bei Letzterem geht es aber um auch nicht viel mehr als 1000 Mann. Freilich kommt Johnson nicht eben im Triumphzug nach Kiew, da er wegen der Affäre um Umtrünke trotz Lockdowns in seinem Amtssitz (Partygate-Affäre) schwer in den Seilen hängt. Aus terminlichen Gründen kam deswegen sogar ein Telefonat mit Putin am Montag nicht zustande und wurde am Dienstag auch nicht nachgeholt.
In Kiew sagte Johnson dann am späten Abend, ein Angriff Russlands würde „ein Desaster“ werden, sowohl militärisch als auch humanitär.
Teilbeitritt der Ukraine zur Nato?
Interessant war die Andeutung aus Kiew, dass man mit Briten und Polen einen Militärpakt plane – das sagte Premier Denys Schmygal beim Besuch seines Gasts aus Warschau vor Journalisten. Polen, so Morawiecki, werde der Ukraine etwa mit Erdgas und Waffen helfen; er nannte „Zehntausende Artilleriegranaten“, Drohnen, Luftabwehrwaffen. Auch die Niederlande planen Waffenhilfe. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, verkündete derweil den Ausbau der Streitkräfte (aktiv etwa 220.000 Mann) um 100.000 Mann.
Morawiecki rief Deutschland auf, die Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland durch die Ostsee nicht in Betrieb zu nehmen. Damit würde man „Putins Pistole laden“, mit der er „Europa erpressen“ könne. Berlin ist zu Militärhilfe unwillig, abgesehen etwa von Kampfhelmen, was zu einem Zerwürfnis mit Kiew geführt hat.
Diese erwähnte Art Dreibund indes wäre extrem heikel, weil sie die Ukraine mit zwei Ländern der Nato verbände und als Teilbeitritt ins Bündnis gesehen werden könnte, jedenfalls in Russland. Die Vereitelung eines Nato-Beitritts ist aber der Kern der Forderungen Moskaus gegenüber dem Westen und Mitgrund des Aufmarschs an den Grenzen zur Ukraine. Dabei stehen die Verlegungen zu Manövern nach Belarus immer mehr im Zentrum. Der Umfang ist unklar, Beobachter schätzen mindestens acht bis zehn Taktische Bataillons-Gruppen, dazu Fallschirmjäger, Flugabwehr- und Fliegereinheiten, gesamt wohl mehr als 10.000 Mann. Das klingt nicht nach viel, aber Kiew ist von der Grenze zu Belarus je nach Straße nur etwa 100 bis 180 Kilometer entfernt.
Westliche Manöverbeobachter nach Belarus?
Verteidigungsminister Sergej Schoigu versprach am Dienstag „Transparenz“: Man habe fremde Militärattachés über die Übung „informiert", obwohl das laut Rechtslage im Rahmen der OSZE angesichts der tatsächlichen Kräftezahl nicht nötig sei. Die Sache ist indes etwas verworren, denn bei der im Westen angenommenen Höhe der russischen Kräfte in Belarus ist eine Vorankündigung solcher Manöver laut OSZE-Recht (Wiener Dokument von 2011) durchaus nötig: Sie gilt beispielsweise ab 9000 Soldaten, 250 Kampfpanzern. Ob die Attachés nun aber auch als Manöverbeobachter geladen wurden, ist aufgrund der Formulierung Schoigus oder deren medialer Vermittlung unklar. Eine solche „Beobachtung" sollte laut Wiener Dokument bei Übungen mit mehr als 13.000 Soldaten/300 Kampfpanzern ermöglicht werden.
Für Spannung sorgte speziell das fast fünfstündige Treffen Orbáns mit Putin. Der Ungar sprach von „Friedensmission“ im Namen der EU, er hat sich als viel kritisierter Genosse Putins einen Namen gemacht. Eine Anfrage der Nato, ob man zur Sicherheit Kräfte nach Ungarn schicken solle, lehnte er jüngst unerwartet und recht brüsk ab.
Nach dem Treffen sagte Putin vor Reportern, der Westen ignoriere Russlands Sicherheitsinteressen und Forderungen nach Ende der Nato-Osterweiterung. Orbán betonte die Bedeutung von Dialog.