Das Wahlkampffinale in der Türkei überraschte durch die Selbstsicherheit der Opposition. Sie feierte ihren Kandidaten bereits als Sieger.
Der Stadtteil Kızılay, im Zentrum Ankaras, gehört den Jungen. Hier reihen sich Buchgeschäfte an Bars, Restaurants an Cafés, es ist laut, und das hat nicht einmal etwas mit dem Wahlkampf zu tun. In den Fußgängerzonen Kızılays quillt das Leben förmlich über. Doch an diesem Tag werden dazu auch noch Parolen gerufen. Ein Tross junger Menschen, sie tragen Sonnenbrillen und rote Gilets mit der Aufschrift CHP, zieht durch die Haupt- und Seitenstraßen und hält das Konterfei von Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu in die Luft, sie rufen „Hak, Hukuk, Adalet“ – drei Wörter für Recht und Gerechtigkeit. Von den Passanten klatschen einige, andere wiederum wechseln die Straßenseite.
In der Selanik-Gasse, die der Tross gerade verlassen hat, kniet ein junger Mann in Schürze auf dem Boden und wäscht die Türe eines schwarzen Autos. „Du bist doch AKP-ler“, ruft ihm die Kellnerin mit den langen braunen Haaren im Nebenlokal zu und lächelt. „Wäre ich AKP-ler würde ich im Auto sitzen, nicht das Auto waschen“, antwortet er schlagfertig, und alle, die es gehört haben, lachen. In Tagen wie diesen ist sogar der Flirt politisch.
Polarisierte Gesellschaft. Die Türkei wählt diesen Sonntag, und es ist eine Wahl mit historischer Dimension. Nach zwei Jahrzehnten mit Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze muss sich das Volk entscheiden, in welche Richtung sich das Land weiterentwickeln soll. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen finden in einer Zeit wirtschaftlicher Turbulenz statt, die Bevölkerung leidet unter der hohen Inflation, die Stimmung ist bisweilen aufgeheizt.