100 Jahre nach Gründung der Republik wählt die Türkei einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Die Wahllokale haben geöffnet.
In der Dr-Reşit-Galip-Volksschule im Diplomatenviertel Ankaras ist die Stimmung ausgelassen. Bereits um 9 Uhr steht die Nachbarschaft Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Eine Familie, sie tragen T-Shirts mit dem Konterfei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, hat soeben das Gebäude verlassen, während sich andere in bester Laune der Schule nähern. "Glück und die besten Wünsche" rufen sich die Nachbarn zur Begrüßung zu, und nach der Stimmabgabe stehen sie in Grüppchen vor der Schule und analysieren die vergangenen Wochen. "Hast du auch gewählt?", fragt eine elegant gekleidete Großmutter mit Föhnfrisur einen Zweijährigen, der mindestens genau so neugierig die Lage beobachtet, wie alle anderen auch.
Es ist Wahltag in der Türkei. 61 Millionen Menschen, darunter sechs Millionen Erstwähler, sind aufgefordert, einen neuen Präsidenten sowie ein neues Parlament zu wählen. Der Wahlkampf war in den vergangenen letzten beiden Wochen besonders intensiv, zumal die Oppositionsallianz bestehend aus sechs Parteien eine erfolgreiche Performance abgeliefert hat. Umfagen zufolge wird es ein knappes Rennen zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer, Kemal Kılıcdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP - wobei in vielen Umfragen Kılıcdaroğlu die Nase vorn hat. Genau 100 Jahre nach Gründung der Republik ist diese Wahl besonders symbolträchtig.
So war auch die Abschlusskundgebung der beiden Kandidaten voller Symbolik. Kılıcdaroğlu legte rote Nelken im Mausoleum von Staatsgründer Atatürk ab, während Erdoğan in der Hagia Sophia betete. Es war Erdoğan, der aus dem Museum, das zunächst eine byzantinische Kirche und später eine Moschee wurde, wieder zu einer Moschee umwandeln ließ.
Liveblogs und Unstimmigkeiten
Viele Menschen sind dem Aufruf der Parteien gefolgt, gemeinsam auf die Wahlurnen aufzupassen. In der Dr-Reşit-Galip-Volksschule sind auch Vertreter diverser Parteien zu sehen, bei der Auszählung am Abend werden dann Vertreter aller Parlamentsparteien anwesend sein. Doch Berichte über Unstimmigkeiten machten bereits am Vormittag die Runde. In Giresun wurden offenbar bereits (für Erdoğan) gestempelte Wahlkarten verteilt, das verbreiteten zumindest gewerkschaftsnahe Webseiten. In Liveblogs tragen unabhängige News-Plattformen mögliche Unstimmigkeiten zusammen. Zu Kritik kam es auch, weil Twitter einige Kanäle sperren ließ.
Internationale Wahlbeobachter sind bereits seit einigen Tagen im Land. Aus Österreich ist die Grüne Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic angereist.
Die Aufregung des Wahltages ist auch in sozialen Medien zu sehen. Unter dem Hashtag #Kullandık (Wir haben unsere Stimme abgegeben) teilen Userinnen und User Bilder von Wahllokalen, ihren Eindrücken und Bilder von sich vor und nach der Stimmabgabe. Die Wahlbehörde hat angekündigt, das vorläufige Endergebnis bis Mitternacht bekanntgeben zu wollen. Zuvor gab Präsident Erdoğan in einem Interview, das in etlichen Kanälen ausgestrahlt wurde, an, das Wahlergebnis in jedem Fall akzeptieren zu wollen. Zuvor jedoch machte er gegenteilige Andeutungen, mit Verweis auf die Putschnacht 2016, als die Menschen die Straßen bevölkerten. Eines steht fest: Für viele Wählerinnen und Wähler wird es eine lange und spannende Nacht.
(duö)