Suspendierung?

Soll und kann Ungarn den EU-Ratsvorsitz übernehmen?

Ungarns Premierminister Viktor Orbán (hier auf einem Archivbild von 2021) und die EU - eine angespannte Situation.
Ungarns Premierminister Viktor Orbán (hier auf einem Archivbild von 2021) und die EU - eine angespannte Situation.imago images/Belga
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Ein möglicher Beschluss des EU-Parlaments für ein Übergehen Ungarns als Ratsvorsitz wäre laut Europarechtler Obwexer "nur von politischer Relevanz". EU-Minister Edtstadler bezeichnet die Debatte als „nicht zielführend“.

Im EU-Parlament in Brüssel wird in dieser Woche über die Eignung Ungarns, 2024 den EU-Ratsvorsitz zu übernehmen, diskutiert. Eine Resolution soll den Rat auffordern, "so rasch wie möglich eine angemessene Lösung" zu finden. Ansonsten droht das Parlament "geeignete Maßnahmen" an. Die sind freilich sehr begrenzt - darüber sind sich Europarechtler einig. Auch für den Europarechtsexperten Walter Obwexer ist ein Beschluss "nur von politischer, nicht von rechtlicher Relevanz".

Durch eine Geschäftsordnungsautonomie der Organe habe das Europäische Parlament im Grunde keine Möglichkeit, in den Ratsvorsitz einzugreifen, erklärt der Universitätsprofessor für Europarecht, Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Die Abgeordneten könnten mit ihrem Zweifel, dass Staaten, die mit Artikel 7-Verfahren über Verletzung der Rechtsstaatlichkeit konfrontiert sind (wie es auf Ungarn und Polen, das danach den Vorsitz übernimmt, zutrifft), einen angemessenen Ratsvorsitz über die Bühne bringen können, nur ein politisches Signal aussenden.

Teampräsidentschaft als Ausweg

Der Ball für die Umsetzung allfälliger Bedenken liegt im Rat, ist sich Obwexer mit anderen Beobachtern einig. Dabei könnte theoretisch das 2009 eingeführte Modell der "Teampräsidentschaft" von großem Nutzen sein. Denn Ungarn bildet von 1. Juli 2023 bis 31. Dezember 2024 mit Spanien und Belgien ein Dreier-Team, Polen bildet von 1. Jänner 2025 bis 30. Juni 2026 mit Dänemark und Zypern ein Trio. Die Teams erstellen jeweils ein gemeinsames Arbeitsprogramm für 18 Monate.

"Innerhalb dieser 18 Monate üben aber sowohl Ungarn als auch Polen für je sechs Monate den Vorsitz im Rat aus. Dabei werden sie von den anderen Mitgliedern der Teampräsidentschaft unterstützt", so Obwexer. "Ein Abweichen von dieser Regelung im Team ist zwar möglich, allerdings nur einvernehmlich. So könnten Ungarn und Polen jene Agenden, die mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit verbunden sind, einem anderen Mitgliedstaat der Teampräsidentschaft übertragen, müssten diese Änderung in der Arbeitsverteilung aber selbst initiieren oder dem zumindest zustimmen. Dies scheint wohl nur wenig realistisch zu sein."

Edtstadler: Streit „nicht zielführend"

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) hat die geplante Resolution des EU-Parlaments erneut kritisiert. Es sei "nicht zielführend, einem Land den EU-Ratsvorsitz abzusprechen", sagte Edtstadler vor einem Treffen mit ihren EU-Amtskollegen am Dienstag in Brüssel. Die für Donnerstag zur Abstimmung angesetzte Resolution zweifelt die Eignung Ungarns wegen Verstößen des EU-Lands gegen die Rechtsstaatlichkeit an.

"Die Rechtsstaatlichkeit ist etwas, da darf es keine Kompromisse geben. Wir müssen aber objektiv mit dem Thema umgehen, und sehen, wo es Fortschritte gegeben hat", betonte die Ministerin. Europa baue auf Rechtsstaatlichkeit auf: "Ich sehe es als Chance, wenn Ungarn während des Ratsvorsitzes europäische Interessen in den Vordergrund stellen und sich darauf auch entsprechend vorbereiten muss. Wir haben klare Regeln: Es ist im EU-Vertrag nirgends vorgesehen, einen Ratsvorsitz abzuerkennen."

Ungarn habe noch einige Zeit zur Vorbereitung: "Das sollten wir ehrlich bewerten. Es sind nach wie vor EU-Gelder eingefroren, weil Ungarn vom Weg der Rechtsstaatlichkeit abgekommen ist", so Edtstadler. Sie sieht aber Fortschritte. Ihre deutsche Amtskollegin Anna Lührmann äußerte hingegen "Zweifel, inwieweit es Ungarn gelingen kann, eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft zu führen."

Rat kann Reihenfolge der Vorsitzübernahmen regeln

Auch John Morijn vom Meijers-Komitee, einer unabhängigen juristischen Expertengruppe mit Sitz in Amsterdam, hält die von Obwexer genannte Option der Themenauslagerung an andere Länder "wahrscheinlich nicht praktikabel", wie er dem Magazin "Politico" sagte. Als gesichtswahrende Möglichkeit könne sie aber dann attraktiv werden, wenn härtere Geschütze glaubwürdig in Stellung gebracht worden seien. Welche dies sein könnten, führt das Meijers-Komitee in einem 13-seitigen Papier aus.

So könnte der Rat die Reihenfolge der Vorsitzübernahme ändern, was er - meist nach neuen EU-Beitritten - in der Vergangenheit auch bereits sechsmal getan habe. Dafür wäre eine qualifizierte Mehrheit (55 Prozent der Mitgliedstaaten - derzeit also 15 -, die gleichzeitig zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen) notwendig, wendet Obwexer ein. "Dabei müsste aber die Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten beachtet werden. Eine Verschiebung des Vorsitzes im Rat betreffend Ungarn und Polen würde das 'Rechtsstaatlichkeits-Problem' allerdings wohl nur verschieben, aber nicht lösen."

Eine ins Spiel gebrachte dritte Option, nämlich die mit der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit begründete Suspendierung des Ratsvorsitzes von Ungarn und Polen, hält Obwexer gegenüber der APA jedoch für "nicht rechtskonform". Nach dem in Artikel 7 des EU-Vertrags geregelten Sanktionsverfahren müsse der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte durch einen dieser Mitgliedstaaten vorliegt. Erst dann könne der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte wie das Recht auf Vorsitzführung im Rat auszusetzen.

Vorerst kein Beschluss, der Vertragsverletzung feststellt

"Der Europäische Rat hat bislang jedoch keinen Beschluss erlassen, mit dem eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung von Werten der Union (insbesondere der Rechtsstaatlichkeit) durch Ungarn und/oder Polen festgestellt wird. Daher ist eine Aussetzung der Vorsitzführung im Rat derzeit nicht möglich", stellt der Europarechtler klar.

Für das Meijers-Komitee ist jedoch "dringendes Handeln" vonnöten. Es fordert die derzeitige schwedische Ratspräsidentschaft, die künftigen Trio-Partner von Ungarn und Polen, die EU-Mitgliedsstaaten, den Rat und das EU-Parlament dringend auf, sich des Themas anzunehmen und die Frage des Ratsvorsitzes in die Verhandlungen miteinzubeziehen. Denn die beste Option für alle sei es, die offenen Fragen der Rechtsstaatlichkeit sofort zu lösen.

Ungarn: „EU-Parlament spielt keine Rolle"

Als "kompletten Unsinn" bezeichnete die ungarische Justizministerin Judit Varga die Diskussion, die ihrer Meinung nach keine ist, sondern "politischer Druck des Europäischen Parlaments, welches europäische Werte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht respektiert." Das EU-Parlament spiele hier "keine Rolle. Das EU-Gesetz bestimmt die Reihenfolge der Ratspräsidentschaften." Ungarn habe fast 20 Jahre EU-Erfahrung und sei damit bestens gerüstet, betonte sie am Dienstag in Brüssel.

(APA)

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