Die Geburtenbeschränkung fordert ihren Preis. Chinas Gesellschaft altert rapide. In den Pensionskassen herrscht Ebbe. Inzwischen bekommen Chinesinnen im Durchschnitt nur 1,5 Kinder.
Peking. Die Großeltern ins Altersheim geben – das galt in China bis vor Kurzem als beschämend für die ganze Familie. In Gesprächen mit Europäern oder Amerikanern wurde dies oft als Beispiel für Hartherzigkeit und Egoismus westlicher Kulturen genannt.
Doch nun, dreißig Jahre nach dem Beginn der chinesischen Wirtschaftsreformen und der strikten Geburtenkontrollen, ändert sich das allmählich. Aus gutem Grund: Die jüngste Volkszählung von 2010 hat bestätigt, was allenthalben auf den Straßen und in den Wohnvierteln im Land zu beobachten ist.
China altert rapide. 13,3Prozent der 1,34Milliarden Einwohner sind 60 oder älter. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird Mitte des Jahrhunderts ein Drittel aller Chinesen das Seniorenalter erreicht haben, errechnen Bevölkerungsexperten. In der Hafenmetropole Shanghai leben die Menschen jetzt schon besonders lange: Die Frauen erreichen dort ein Durchschnittsalter von 84 Jahren, die Männer werden 80.
Der Anteil der Jungen nimmt entsprechend ab, der Anteil der unter 14-Jährigen liegt jetzt bei 17 Prozent, im Jahr 2000 waren es noch 23 Prozent.
Immer noch Zwangsabtreibungen
Inzwischen bekommen Chinesinnen im Durchschnitt nur 1,5 Kinder. Die Reproduktionsrate liegt bei 2,1. Der Geburtenrückgang ist nicht zuletzt eine Folge der Ein-Kind-Politik, die Chinas Familienplaner seit Anfang der Achtzigerjahre häufig mit extremer Härte durchgesetzt haben: Zwangsabtreibungen bis in die letzten Stadien der Schwangerschaft und Zwangssterilisationen waren an der Tagesordnung. Immer noch kommen solche Übergriffe vor, obwohl sie offiziell nicht erlaubt sein sollen. Nicht alle Frauen in China sind gleich betroffen: Ethnische Minderheiten wie die Tibeter dürfen mehr Kinder bekommen. Auf dem Land ist zudem eine ganze Reihe unterschiedlicher Ausnahmeregeln eingeführt worden. Bauern etwa dürfen zwei oder mehr Sprösslinge in die Welt setzen, wenn das erste Kind ein Mädchen ist.
So gilt die strikte Ein-Kind-Vorschrift heute nur noch für ein Drittel der chinesischen Frauen. Weil viele Paare einen Sohn bevorzugen und weibliche Föten eher abgetrieben werden, ist das Geschlechterverhältnis längst aus der Balance geraten: Mittlerweile kommen jährlich deutlich weniger Mädchen als Buben auf die Welt. Das Verhältnis liegt bei 100 zu 118.
Prekäre Situation auf dem Land
Innerhalb Chinas nimmt die Kritik an der Geburtenbeschränkung zu, obwohl die Regierung daran weiterhin festhält – mit der Begründung, nur so könne das Land wohlhabend und die Umwelt geschont werden. Viele Experten warnen aber vor einer demografischen Katastrophe, denn es ist noch völlig unklar, wie die vielen Alten versorgt werden sollen: In den Pensionskassen herrscht Ebbe.
Auf dem Land ist die Situation besonders schwierig: Ein großer Teil der Bauern hat keinerlei Anspruch auf eine Rente und ist finanziell von den Kindern abhängig, die weit weg in den Städten als Wanderarbeiter leben. Was viele Chinesen besonders ärgert: Reiche Landsleute können es sich leisten, mehr Kinder zu bekommen, sie zahlen problemlos die Strafen. In den größeren Städten Chinas leben die meisten Bewohner schon als Kleinfamilien zusammen – zu dritt oder viert in einer Wohnung. Und immer mehr Alte gehen ins Heim.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2011)