Bei Maßnahmen gegen Armut, Arbeits- und Obdachlosigkeit gilt Wien in vielerlei Hinsicht als Vorreiter. Experten orten dennoch Lücken im Vollzug und Verbesserungsbedarf in zahlreichen Punkten.
Wien. Als Modell für ein soziales Europa. Eine Stadt, die niemanden ausgrenzt und in Not geratene Menschen mit einem dicht geknüpften sozialen Netz auffängt. So präsentiert sich Wien in der Selbstdarstellung. Ein Bild, das der Realität in vielen Punkten freilich nicht entspricht. Wenngleich die sozialen Standards in Wien höher sind als in vielen anderen Bundesländern und europäischen Staaten. Ein Blick auf 2012 zeigt, dass sich einiges noch verbessern wird. Experten beklagen aber auch Rückschritte und fordern härtere Maßnahmen gegen Armut, Arbeits- und Obdachlosigkeit.
Die Zahl der manifest Armen hat in Wien zuletzt einen Höchststand erreicht. Für 185.000 Personen war der Mindestlebensstandard nicht mehr leistbar. Insgesamt sind 18Prozent der Wiener Bevölkerung oder 305.000 Menschen armutsgefährdet. Die Armutsgefährdungsschwelle liegt laut „European Union Statistics on Income and Living Conditions“ (EU-SILC) bei 1031 Euro im Monat für einen Einpersonenhaushalt – der Lebensstandard der armutsgefährdeten Menschen beträgt im Mittel nur 835 Euro pro Monat.
Eine „Armutsbremse“ fordert daher die Armutskonferenz. Überfluss müsse besteuert werden, weiters brauche es Investitionen in die Zukunft. Anfangen sollte man bei der Kinderbetreuung, Schule und Pflege. Auch Volkshilfe-Präsident Josef Weidenholzer zeigt sich alarmiert. Für Österreich müsse Armutsbekämpfung oberste Priorität werden. Dazu gehörten existenzsichernde Löhne, eine Mindestsicherung über der Armutsgefährdungsschwelle sowie „leistbare qualitätsvolle Dienstleistungen“.
„Harmonisierung steht aus“
Anerkennung und Kritik gleichermaßen gibt es von Caritas-Präsident Franz Küberl an der Umsetzung der 2010 eingeführten Mindestsicherung. In Wien bekommen sie etwa 70.000 Personen – zusätzlich zu den 752,94 Euro pro Monat haben Bezieher Anspruch auf 100 Euro Heizkostenzuschuss pro Winter und Haushalt. Eine umfassende Harmonisierung des untersten sozialen Netzes ist laut Küberl damit aber nicht gelungen. Die für Wohnkosten vorgesehenen 188 Euro pro Monat können sich laut Küberl nicht ausgehen. Er fordert daher einen Rechtsanspruch auf die Abdeckung der Wohnkosten.
Die zweite Baustelle im sozialen Netz sei die Vollzugspraxis. „Damit meine ich den Punkt, an dem der Unterstützung brauchende Mensch mit der Behörde in Beziehung tritt“, sagt Küberl. Er spricht sich daher für Schulungen für Beamte aus, die die Mindestsicherung abwickeln. „Weil jeder Mensch eine Würde hat.“ Positiv bewertet Küberl die zielgruppenspezifischen Angebote in Wien zur Reintegration der Bezieher in den Arbeitsmarkt, den Rechtsanspruch auf die Mindestsicherung und die Errungenschaft, dass „nun auch Menschen im untersten sozialen Netz eine E-Card haben“. Ähnlich äußert sich Caritas-Direktor Michael Landau: „Die Einführung der Mindestsicherung war ein wichtiger Schritt, um Wien ein Stück armutsfester zu machen. Wien hat sogar Vorbildwirkung, weil hier die Rate der Nichtinanspruchnahmen im Vergleich zu anderen Bundesländern am niedrigsten ist.“ Im Vollzug komme es aber oft zu langen Bearbeitungszeiten.
Gruft wird ausgebaut
Auch die Obdachlosenhilfe in Wien hat sich laut Landau zuletzt positiv entwickelt. „Etwa, was den Ausbau sozial betreuter Wohnhäuser betrifft.“ Zudem wird das Caritas-Obdachlosenheim Gruft ausgebaut. Im Hof der Einrichtung soll ein Neubau entstehen, der eine Küche, Beratungs- und Lagerräume beherbergen und im ersten Halbjahr 2013 fertiggestellt werden soll. In der Gruft wurden im vergangenen Jahr 90.000 warme Mahlzeiten verteilt. Einige offene Lücken in der Versorgung gelte es aber zu schließen. „Stichwort junge Wohnungslose und EU-Bürger“, so Landau.
Kritik an Wiens Arbeitsmarktpolitik übt Christoph Parak, Geschäftsführer des Dachverbands für sozialökonomische Unternehmen. Dabei handelt es sich um Betriebe, die benachteiligten Bevölkerungsgruppen helfen wollen, schrittweise ins Arbeitsleben zurückzufinden. „Diese Unternehmen leisten einen wichtigen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt“, sagt Parak. „Daher sollten ihre vielfältigen Dienstleistungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe berücksichtigt werden. Das ist in Wien nicht der Fall.“
Reagiert hat die Politik bereits auf ein anderes Problem auf dem Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshintergrund können im kommenden Jahr auf mehr Unterstützung bei der Jobsuche hoffen. 17Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben in Wien Migrationshintergrund, sie stellen etwa 16Prozent der Beschäftigten. Aber ein Drittel der Arbeitslosen hat Migrationshintergrund.
Seit Jänner 2012 gibt es zudem unter dem Begriff Jugendcoaching ein Frühwarnsystem an Wiens Schulen. Demnach müssen Schulen ein Jahr vor Beendigung der Schulpflicht darüber informieren, ob ein Schüler eine Lehrstelle in Aussicht hat, eine weiterführende Schule besuchen oder schwer am Arbeitsmarkt vermittelbar sein wird. Jugendliche, die es brauchen, werden bis zu einem Jahr lang von Experten begleitet, um sie auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.
In der Serie „Wien 2012“ sind bisher erschienen: Tourismus (2.1.), Wohnbau (3.1.), Wirtschaft (4.1).
Auf einen Blick
Trauriger Rekord. Die Zahl der manifest Armen hat in Wien im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht. Für etwa 185.000 Menschen war der absolute Mindestlebensstandard nicht mehr leistbar. Kritik übt Caritas-Präsident Franz Küberl daher an der Mindestsicherung – eine umfassende Harmonisierung des untersten sozialen Netzes sei nicht gelungen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2012)