Wie sich Julia Timoschenko zur Jeanne d'Arc stilisiert

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Ihre Haftbedingungen provozieren EM-Boykottaufrufe. Die erkrankte Oppositionsführerin der Ukraine stürzt sich bewusst in die Märtyrerrolle. Stoisch und trotzig stellte sie sich aus freien Stücken über 40 Einvernahmen.

Sie hätte leicht das Weite suchen können. Hätte sich ins Ausland abseilen können wie ihr Ehemann und dort problemlos politisches Asyl erhalten. Doch Julia Timoschenko, in deren Kiewer Arbeitszimmer ein Standbild der Jeanne d'Arc auf dem Schreibtisch steht, ist geblieben. Sie blieb, selbst nachdem sie kurz vor Weihnachten 2010 wegen jenes Gasdeals mit Russland angeklagt worden war, für den sie seit über einem halben Jahr eine siebenjährige Haftstrafe absitzt.

Stoisch und trotzig stellte sie sich aus freien Stücken über 40 Einvernahmen, unterwarf sich Reisebeschränkungen und ließ sich schließlich am 5.August festnehmen und in Untersuchungshaft bringen. Sie ließ sich erniedrigen und ging sogar noch weiter: Sie riskierte ihre Gesundheit. Die 51-Jährige wusste genau, dass sich ein altes Rückenleiden im Gefängnis wieder verschlechtern würde. Mittlerweile geht es der einstigen Regierungschefin so schlecht, dass sie wohl um ihr Leben bangen muss. Zuletzt stimmte sie zu, sich von einem deutschen Arzt behandeln zu lassen. Nach Misshandlungen ist die Schwerkranke aus Protest gegen die Haftbedingungen vor knapp zwei Wochen in einen Hungerstreik getreten – und hat damit eine Welle von Boykottdrohungen gegen die in fünf Wochen in der Ukraine und Polen beginnende Fußball-Europameisterschaft losgetreten.

Verhaftung 2011. Zuvor war es lange still um Timoschenko gewesen. Erst ihre Verhaftung im August 2011 ließ ihre politischen Aktien wieder steigen. Brüssel verknüpft seitdem Timoschenkos Schicksal eng mit der politischen Zukunft des Landes, das seinen Weg in die Europäische Union sucht.

Geboren wurde Julia Timoschenko 1960 in Dnjepropetrowsk. Noch in der damaligen Sowjetunion studierte sie Wirtschaftskybernetik. Doch kaum hatte Michail Gorbatschow mehr Privatinitiative erlaubt, eröffnete die damals noch brünette Timoschenko mit ihrem Mann eine Hinterhof-Videothek. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, von ihrer Mutter allein aufgezogen, hatte sie früh gelernt, ihr Schicksal in eigene Hände zu nehmen. Im Todesjahr der Sowjetunion, 1991, stieg die Familie mit wenig Kapital in den Benzinmarkt ein. Mit Gas- und Stromhandel an der Spitze des Konzerns „Vereinigte Energiesysteme der Ukraine“ (JESU) kam sie als Vertraute des heute wegen Geldwäscherei in den USA einsitzenden ukrainischen Ex-Premiers Pavlo Lazarenko Mitte der Neunzigerjahre zu Reichtum. Das Geld soll sie früh außer Landes geschafft haben. Im Jahre 2001 saß Timoschenko deswegen 42 Tage in Untersuchungshaft. Die Anklage wurde aus Mangel an Beweisen aber wieder fallen gelassen.

Weltberühmt wurde Julia Timoschenko indes erst während der „Orangen Revolution“. Auf dem Majdan, dem Kiewer „Platz der Unabhängigkeit“, hatte die damals 43-Jährige mit blondem Haarkranz die Herzen der Demonstranten erobert, nicht der bedächtige von einem Dioxinanschlag entstellte spätere Präsident Viktor Juschtschenko. „Jeder Tag ohne euch ist ein verlorener Tag für mich!“, rief sie den fahnenschwenkenden Demonstranten zu. „Die Banditen gehören ins Gefängnis!“ 17 Tage lang klirrende Kälte und die Stimme einer Frau, die so schnell keiner vergisst. Volksnähe und eine radikale Abrechnung mit dem alten System waren ihr Programm. Anfang 2005 wurde sie von Juschtschenko zur ersten „orangen“ Premierministerin berufen. Doch der bedächtige Exbanker und die kämpferische Aufsteigerin zerstritten sich bald. Timoschenko musste gehen – und kam 2007 wieder als Regierungschefin zurück.

Kriminelle Machenschaften. Im Oktober 2011 allerdings wurde sie – späte Rache für die „Orange Revolution“ – selbst zur Banditin gemacht. „Kriminelle Machenschaften“ seien der Angeklagten bei der Aushandlung eines Gasliefervertrags nachgewiesen worden, begründete ein Kiewer Bezirksgericht. Dass die ganze Anklage politisch motiviert ist, daran zweifeln weder Brüssel noch Washington. Das epische Ringen zwischen Janukowitsch und Timoschenko fand damit allerdings kein Ende. Timoschenko nämlich nutzt ihre Haft dank hochprofessioneller Medienarbeit zum Gegenschlag. Ihr Hungerstreik gehört genauso dazu wie die EM-Boykottaufrufe ihrer Unterstützer nah und fern. Mehrere europäische Regierungschefs wie auch die EU-Kommission haben bereits angekündigt, den EM-Spielen in der Ukraine fernzubleiben. Berlin fordert unterdessen nicht nur eine Lösung des Falles Timoschenko, sondern eine Beachtung der Menschenrechte im Umgang mit allen Oppositionellen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2012)

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