Die Kommission legt im Herbst Vorschläge für eine Föderation vor. Doch die Bürger Europas sind skeptisch. "Wir müssen den Weg zu einem Bund der Nationalstaaten gehen“, Barroso
Brüssel. In einer Rede vor dem Europaparlament schloss sich Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Mittwoch der wachsenden Zahl der Föderalisten an und forderte, dass die EU zu einem Bundesstaat vertieft wird. „Wir sollten nicht davor zurückschrecken, es deutlich zu sagen: Wir müssen den Weg zu einem Bund der Nationalstaaten gehen“, sagte er. Die „gemeinsame Ausübung von Souveränität“ solle es den Staaten der EU ermöglichen, „dass jedes einzelne Land und jeder einzelne Bürger besser in der Lage sind, über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Im Zeitalter der Globalisierung bedeutet geteilte Souveränität mehr und nicht weniger Macht.“
Jenseits der politischen Werbung eines Mannes, der sich nicht besonders vehement gegen Gerüchte über sein Interesse an einer dritten Amtszeit ab 2014 wehrt, ist Barrosos Bekenntnis ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Debatte über Europas Zukunft nun klar auf eine Vertiefung der Union mit der weiteren Abgabe nationalstaatlicher Zuständigkeiten zuläuft. Anders gesagt: Wenn sogar ein übervorsichtiger und vom Wohlwollen Berlins abhängiger Amtsträger wie Barroso sich zum Föderalismus bekennt, dann kann man sich ausmalen, wie fortgeschritten der Reformwille der deutschen Regierung heute ist. Barroso versprach, er werde vor den nächsten Europawahlen (sie werden Anfang Juni 2014 stattfinden) seine Vorstellungen von der künftigen Gestalt der EU vorlegen, einschließlich konkreter Ideen für die Neugestaltung der Verträge. Denn „am Ende dieses Wegs zu einem Bund der Nationalstaaten wird ein neuer Vertrag stehen müssen“, und für den brauche es einen Konvent und eine Regierungskonferenz. „Die Zeiten, in denen die europäische Integration mit der stillschweigenden Zustimmung der Menschen vorangebracht wurde, sind vorüber“, sagte der Portugiese.
So weit war Europa schon einige Male seit dem Zweiten Weltkrieg, zuletzt Anfang der 2000er-Jahre. Doch der damalige Konvent aus Vertretern der nationalen Parlamente, des Europaparlaments, der Regierungen und der Kommission war ein Misserfolg. 2005 lehnten die Franzosen und die Niederländer den Verfassungsvertrag ab.
Gegen das Dahinwurschteln auf Chefebene
Die Föderalisten waren seither in der Debatte unten durch. Doch die Eurokrise verleiht ihnen paradoxerweise Aufwind. Das Dahinwurschteln auf Chefebene, die regelmäßigen Erwartungen an hochkochende und enttäuschende Krisengipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs haben den Glauben daran geschwächt, dass die nationalen Regierungen das Boot schon irgendwie schaukeln werden. Um es in die Worte von Jean Quatremer, des provokanten Brüssel-Korrespondenten der französischen Zeitung „Libération“, zu kleiden: „Die diversen Krisenbeschlüsse sind ein Eingeständnis der eigenen Inkompetenz der Regierungen.“
Wer die Ohren spitzt, kann die Föderalisten schon seit einiger Zeit immer lauter hören. Andrew Duff zum Beispiel, einen führenden britischen Liberalen. Im Gespräch mit der „Presse“ sagte er: „Wir müssen die letzten Schritte eines europäischen Föderalismus vorbereiten – und dabei müssen wir sehr vorsichtig sein. Jetzt, im Moment, sind wir dazu noch nicht bereit. Sondern wir müssen erst die Gesetze zur Reform der Finanzmärkte umsetzen – vor allem, damit Deutschland Vertrauen in die Fiskalunion gewinnt.“
Duff, der schon am letzten Konvent teilnahm, hält den Frühling 2015 für ein schlüssiges Datum zum Beginn des Konvents. Wieso? „Weil das Europäische Parlament, aber auch die Kommission eine geistige Erfrischung und Verjüngung brauchen.“
Das britische Problem als Erstes lösen
Die Angst vor einem erneuten Misserfolg hält Duff für berechtigt. Das zeigen Umfragen. In der am Mittwoch veröffentlichten jährlichen Studie „Transatlantic Trends“ des German Marshall Fund sagen 57 Prozent der befragten Europäer, dass die Hoheit über Budget und Wirtschaftspolitik bei den nationalen Regierungen bleiben soll. Besonders stark ist dieses Gefühl bei Briten (79 Prozent) und Schweden (75 Prozent) ausgeprägt. Einen Stabilitätsfonds für notleidende Staaten befürworten 54 Prozent der Europäer – sechs Prozent weniger als 2011.
Die Ablehnung der EU in Britannien steigt rasant. 49 Prozent der Briten halten sie für schlecht, um 14 Prozent mehr als 2011. Nur 40 Prozent befürworten die Mitgliedschaft in der EU, 52 Prozent lehnen sie ab. „Man muss im Konvent als Erstes das britische Problem lösen“, sagte Duff. „Man muss einen Platz für das Vereinte Königreich finden, wo es auf demokratische Weise zufrieden ist. Man könnte etwa eine Art zweiter Klasse der EU-Mitgliedschaft schaffen.“
Duff hält wenig von der Idee, die nationalen Parlamente in der Europapolitik aufzuwerten. „Ich respektiere die nationalen Parlamente – aber ihr Umgang mit europäischen Fragen ist erschütternd, und ihnen Kontrolle über europäische Politik zu geben ist undenkbar.“ Zumal es auf europäischer Ebene nicht an Parlamentarismus mangle, sondern an Regierung. „Der Parlamentarismus in Europa wuchs stets durch den Widerstand gegen die Regierung, ob es Habsburg oder die Bourbonen waren. Darum braucht es eine europäische Bundesregierung mit einem Finanzminister.“
Die Tiroler Grüne Eva Lichtenberger hingegen hält die nationalen Mandatare für erfolgsentscheidend. Sie war ebenfalls schon im Konvent, damals als Nationalratsabgeordnete. Der Konvent, sagt sie, werde umso besser sein, „je mehr sich die nationalen Parlamente eine europäische Sichtweise zu eigen machen. Man muss schauen, dass es keine nationalistischen Revanchefouldebatten gibt.“ Und dann gelte es, die Zivilgesellschaft ordentlich einzubinden. Auch das ging vor zehn Jahren schief. „Es reicht nicht, ihr nur einmal zuzuhören, und das war es dann. Sonst weckt man Erwartungen, die man nicht erfüllen kann. Und nichts ist schlimmer als unerfüllte Erwartungen.“ Was auch erkläre, warum die Verhandlungen so transparent wie möglich ablaufen müssten: „Wenn ich von vornherein transparent sein muss, dann kann ich keine Nebenabsprachen machen. Dann muss es um die Sache gehen.“ Und natürlich, fügte Lichtenberger hinzu, müsse das Volk entscheiden: „Volksabstimmung ja – aber eine europäische.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2012)