Trachtoides und Pseudoauthentizität

Trachtoides Pseudoauthentizitaet
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Ein Polyesterdirndl für das Tokioter Oktoberfest oder eine Lodenhülle für das Tablet? Die einstige Funktionskleidung der Landbevölkerung hat längst markante Kontextverschiebungen durchlaufen.

Die schöne Literatur weiß Rat. Auch für alle, die es nach dem möglichst Ursprünglichen und Unverdorbenen gelüstet, hält sie tröstliche Ausblicke bereit: Mit „Karte und Gebiet“ legte ja Michel Houellebecq 2010 die literarische Fortführung all jener Sehnsüchte vor, die in der Magazinlandschaft von Titeln wie „Servus“, „Landleben“ und „Landlust“ befeuert werden. Der streitbare französische Autor antizipiert am Ende dieses Romans eine nicht allzu ferne Zukunft, in der sein Protagonist Jed Martin, ein erfolgreicher Künstler, seinen Lebensabend verbringt.

Nach Jahren der selbst gewählten Reklusion in seinem Landsitz fern von Paris öffnet Martin die Pforten seines Gartens und begibt sich wieder in das einst verschlafene Dörfchen in der Franche-Comté. Mit Erstaunen stellt er fest – man schreibt etwa das Jahr 2035 –, dass Frankreich mittlerweile komplett deindustrialisiert daliegt, sich jedoch auf das Stereotyp seines traditionellen Savoir-vivre zu berufen weiß und so ganz gut von Tourismus, Landwirtschaft und pittoresken, einst dem Aussterben preisgegebenen Handwerksberufen lebt. Die ländliche Bevölkerung wurde längst von findigen Unternehmern verdrängt, die auf der Campagne eine Art Landleben-Disneyisierung vollzogen haben.

Rückeroberung des Ruralen.
So hanebüchen sich Houellebecqs Szenario zunächst ausnimmt, wird doch eine von schlauen Stadtflüchtigen betriebene Rückeroberung des Ruralen im Angesicht um sich greifender Landfantastereien allmählich plausibler. Nicht wenig Bedeutung wird in diesem Zusammenhang naturgemäß dem Aspekt des Gewandes beigemessen: Schließlich lässt sich die textile Oberfläche relativ problemlos gestalten.

Der eigentliche Sinn der Kleidung besteht freilich darin, den Menschen zu verhüllen, zu wärmen und zu schützen. Und dieser Aspekt des Funktionalen ist gerade im Zusammenhang mit der Tracht entscheidend: Etymologisch wird der Begriff gemeinhin auf das Verb „tragen“ zurückgeführt, was klar auf die Bedeutung des Praktischen hinweist. Ihrem Wesen nach handelt es sich bei der Tracht, wollte man das durch die Gegenüberstellung von ins Englische übersetzten Termini klarmachen, eigentlich um eine ländliche „Workwear“ und nicht eigentlich ein „Traditional Costume“ mit offenkundigem Bezug zu einer bestimmten Lokalität. „Traditionell hat es Trachten mit präzisem Ortsbezug nicht in diesem Ausmaß gegeben“, unterstreicht etwa die promovierte Volkskundlerin und oft als Doyenne der österreichischen Trachtenszene titulierte Unternehmerin Gexi Tostmann und fährt fort: „Trachten waren nicht hauptsächlich orts-, sondern eher zweckgebunden; es gab viele Standestrachten. Zum Beispiel waren die Bauern oder Jäger in ganz Mitteleuropa mehr oder weniger gleich angezogen und als Angehörige ihres Berufsstandes erkennbar.“ Diese Zweckgebundenheit der Arbeitsbekleidung auf dem Land bedingte auch die Auswahl der Materialien: Erstens durften sie nicht zu kostspielig sein, und zweitens mussten sie widrigen Witterungsbedingungen standhalten – Loden, Leder, Wolle und Leinen kamen zum Einsatz, also lauter Textilien, die sich in der höfischen Mode beileibe nicht so gut machten.

Und doch verdankt die Tracht ihren ungebrochenen Siegeszug durch sämtliche Lifestyle-Gefilde jenen Sommerfrischlern aus der Stadt, die sie ab dem 18. Jahrhundert für sich entdeckten und einem „Upgrade“ unterzogen. Eva Kreissl, die als Kuratorin für das Grazer Volkskundemuseum arbeitet, unterstreicht diese Vorreiterrolle in der Modehistorie: „Das Dirndl ist das erste Kleidungsstück, das die Bewegung von unten nach oben geschafft und den Aufstieg von der bäuerlichen in die aristokratische und bürgerliche Mode bewerkstelligt hat.“ Was in der Modetheorie des 20. Jahrhunderts als „Bubble-up“-Effekt die Einflussnahme von Street-Styles auf die Avantgardemode und Couture bezeichnet, findet seinen Vorläufer in höfischen Remix-Varianten alpenländischer Trachten. Diese waren, so Kreissl, ihrerseits von Moden beeinflusst: Trug man in den 1830ern noch Dirndln im Empire-Stil, setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine barocke Silhouette als Vorlage für das „echte Dirndl“ durch.


Rekonstruierte Ursprünglichkeit. Die „Echtheit“ ist in diesem Zusammenhang aber ohnehin ein schwieriger Begriff. Denn es stellt sich heraus, dass jenes „Authentische“, das auch aktuell so beliebt ist (das trifft in der Kleidung zu, in Erzeugnissen des Handwerks, im Bereich von Essen und Trinken selbstverständlich auch), bisweilen erst nachträglich erfunden werden musste.

Auch diesbezüglich ist das gesamte Trachtenthema aufschlussreich, wie ein Seitenblick auf die Arbeit von Volkskundlern wie Viktor Geramb und Konrad Mautner im frühen 20. Jahrhundert erweist. Die beiden erstellten das „Steirische Trachtenbuch“ im Grunde als eine Kompilation ideal angenommener Trachtenbausteine. „Gerambs Ansinnen“, so Eva Kreissl, „war es, eine Welt wiederherzustellen, die nicht nur im Untergang begriffen war, sondern die es zu dem Zeitpunkt längst nicht mehr gab.“ Oder die es womöglich nie in dieser idealen Form gegeben hat.

Bezeichnend für das nostalgische Sehnen nach der von Trachten(mode) inkarnierten Ursprünglichkeit ist nicht nur der Erfolg aller möglichen „Alpine Looks“ und Billigdirndln aus Polyester in diversen Neon-Nuancen, die rechtzeitig für die Oktoberfestwelle im Herbst in den (Diskont-)Handel kommen. Sondern auch die Arbeit von Ortsgruppen, die sich in allen Bundesländern plötzlich lokale Trachten ausdenken, wo solche nie existiert haben: „Meiner Meinung nach ist das eine Reaktion auf die Globalisierung“, sagt Gexi Tostmann, die selbst als (solchen Kommissionen einigermaßen kritisch gegenüberstehendes) Mitglied einer Neu-Trachten-Evaluierungskommission in Niederösterreich fungiert. Sie weist auf möglicherweise ökonomische Beweggründe für diese neue Verve hin: „Die Bedeutung des Tourismus als Einnahmequelle nimmt zu, und damit wird die Tracht auch wieder zu einer Berufsbekleidung für Menschen, die zum Beispiel in der Gastronomie arbeiten – das ist eine interessante Entwicklung.“ Und eine, die auch Eva Kreissl beobachtet: „Die wirkliche Landbevölkerung gibt es ja nicht mehr, und die meisten Landwirte sind auch Hoteliers oder Gastronomen.“ Tracht werde da nicht mehr als Workwear am Feld angezogen, sondern allemal in der Gaststube (wo sich wahrscheinlich besseres Geld verdienen lässt).

Kreissl, die wie Gexi Tostmann dem Trachtenpurismus skeptisch gegenübersteht, tadelt zugleich eine Beliebigkeit der Formen, die sie als „trachtoid“ abtut. Haarsträubende Dirndl-Looks und Lederhosen ohne jede Patina erfreuen sich während der ortlos gewordenen Kirtags- und Oktoberfestsaison wachsender Beliebtheit, dazu werden gern Pseudo-Jagdschmuck und Loden-Accessoires wie herzig bestickte iPad-Hüllen gekauft. So ausgestattet, schunkelt eine globale Trachten-Community im FaschingsLook in den Bierzelten diverser Weltstädte vor sich hin – und fühlt sich paradoxerweise prächtig ortsverbunden (vor ihrem inneren Auge drehen sich wahrscheinlich Besucher des Tokioter Oktoberfestes wie Julie Christie auf Almwiesen im Salzburgischen). Von dieser Pseudoauthentizität des Trachtoiden bis zur disneyisierten Ländlichkeit à la Houellebecq ist es vielleicht tatsächlich nur mehr ein kleiner Schritt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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