Erweiterung: Europas stärkstes Werkzeug

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Am 1. Juli tritt Kroatien der EU bei. Für das Land und seine Nachbarn eine Chance, aus den politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen zu entkommen. Ein Fallbeispiel für die Dynamik des kontrollierten Wachsens.

Wien/Zagreb. „Dann haben wir unsere Aufgabe erfüllt, dann können wir zusperren.“ Thomas Hagleitner, ein hochrangiger Beamter der EU-Kommission schien über die Frage irritiert, was seine Abteilung wohl machen werde, wenn einmal alle europäischen Staaten der EU beigetreten sind. Aber dann antwortet er doch geradeheraus und mit einem Lächeln. Er weiß wohl, dass ein solches Szenario seine eigene Karriere kaum treffen wird. Noch warten einige Länder auf ihre Aufnahme – am Westbalkan, an der östlichen Peripherie und im Süden die Türkei. Die Erweiterung der EU ist Teil ihrer Geschichte. Sie ist ihr Motor geworden, ihr außenpolitisches und ökonomisches Werkzeug. Deshalb gibt es in Brüssel auch eine eigene Abteilung in der EU-Kommission, die sich ständig mit ihr beschäftigt.

Am 1. Juli wird Kroatien als 28. Mitglied der Europäischen Union beitreten. Nach den letzten Erweiterungen 2004 um zehn Staaten und 2007 um Rumänien und Bulgarien, scheint diese Vergrößerung der EU um 4,4 Millionen Menschen kaum von Bedeutung. Aber nicht für das Land selbst, das sich rund zehn Jahre vorbereitet hat. Kroatien hat sich sei 1990 von einem ehemaligen jugoslawischen Teilstaat über eine autoritär geführte Präsidialrepublik unter Franjo Tudjman zu einer westlichen Demokratie entwickelt. Begleitet wurde das von einer breiten wirtschaftlichen Transformation. Heute ist Kroatien trotz einzelner Probleme deutlich besser auf die EU-Mitgliedschaft vorbereitet als Rumänien und Bulgarien 2004. Auch deshalb, weil die Kontrolle der Anpassungen verschärft wurde.

Zusätzliches Wirtschaftswachstum

Die Erweiterung der EU war stets Antrieb für Reformen. Sie war der Schlüssel zum großen Umbruch in Mittel- und Osteuropa und ein Garant dafür, dass sich Länder wie Polen, die Slowakei oder Slowenien letztlich klar marktwirtschaftlich orientiert haben. Der Erfolg dieser Wachstumsstrategie ist selbst in Zeiten der Krise unbestritten. Laut einer Berechnung der EU-Kommission hat die Erweiterung 2004 ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 1,3 bis 2,1 Prozent pro Jahr für die gesamte Gemeinschaft gebracht. Die Länder selbst konnten durch den Beitritt an einem riesigen Markt von mittlerweile 505 Millionen Konsumenten partizipieren. Gleichzeitig brachte die EU für sie eine Effizienzsteigerung, etwa durch Reformen in Verwaltung und Justiz.

Wirtschaftlich hat jede Erweiterung auch den EU-Nachbarstaaten Vorteile gebracht. Österreich konnte seine Exporte in die ehemaligen Ostblockländer zwischen 1995 und 2008 vervierfachen. Die Aufnahme von Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien reduzierte nicht wie befürchtet die Beschäftigung im Inland, sondern brachte sogar zusätzliche Arbeitsplätze. Laut Wirtschaftsforschungsinstitut wurde durch die neuen Geschäftsfelder im Osten die Arbeitslosigkeit um 0,4 Prozentpunkte gedämpft.

Der wachsende Wohlstand in den neuen Mitgliedstaaten sorgte für eine erhöhte Nachfrage an Gütern, die vorwiegend aus den westlichen EU-Nachbarstaaten bezogen wurden. Bevor die Krise auch die neuen Mitgliedstaaten erfasste, wuchs beispielsweise die slowakische Wirtschaft jedes Jahr um sieben Prozent, im Rekordjahr 2009 sogar um 10,4 Prozent. Dieses rasche Wachstum führte allerdings auch zu einer unterschiedlich Verteilung. Während die Hauptstadt Bratislava mittlerweile zu den reichsten Regionen der EU zählt, ist der Osten des Landes mit seiner hoher Arbeitslosigkeit und großen Armut weit abgeschlagen.

Österreich hat aber auch von der politischen Stabilisierung profitiert, die mit der letzten großen Erweiterung der EU einherging. Als ab 1989 die Grenzen zu den bis dahin kommunistisch regierten Ländern fielen, bestand noch ein großes Risiko, dass innere Auseinandersetzungen, gepaart mit einer Renaissance des Nationalismus Europas Osten destabilisieren könnten. Lediglich in Ex-Jugoslawien bewahrheiteten sich diese Befürchtungen.

Dass die EU-Erweiterung letztlich auch das stärkste außenpolitische Druckmittel ist, bewies sich am Westbalkan. Hier hat die Aussicht auf eine EU-Integration nicht nur die wirtschaftliche Transformation vorangetrieben, sondern auch geholfen, die belasteten Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Es wurden die rechtlichen Voraussetzungen für den Schutz von Minderheiten geschaffen und zuletzt sogar ein historisches Fenster für eine Lösung des Kosovo-Konflikts geöffnet.

Bevölkerung verdreifacht

Die Erweiterung hilft aber auch der gesamten EU, ihre Macht auszubauen und somit zu einem globalen Player zu werden. Als 1951 die Kohle- und Stahlgemeinschaft von sechs Staaten (D, F, I, B, NL, Lux) gegründet wurde, hatte die Gemeinschaft eine Bevölkerung von rund 180 Millionen Millionen Menschen. Mit der Aufnahme von Kroatien wird sich die Bevölkerung der EU seit ihrer Gründung fast verdreifacht haben. Das bedeutet eine gewaltige Wirtschaftskraft; ein weltweites diplomatisches Netzwerk, einen großen gemeinsamen Verwaltungsaufwand, aber natürlich auch wachsende innere Differenzen. Waren Kompromisse unter sechs und später zwölf Mitgliedern noch relativ leicht zu finden, wird dies mit bald 28 Mitgliedern zum Kraftakt.

Die wachsenden internen Probleme haben auch dazu geführt, dass die Erweiterung in der Bevölkerung an Unterstützung verloren hat. Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage sind nur noch 38 Prozent der EU-Bürger für die Aufnahme neuer Mitglieder, 52 Prozent sind dagegen (Rest: weiß nicht, keine Antwort).

Die Erweiterung macht die Notwendigkeit von inneren Reformen der Europäischen Union deutlich. Die gewachsene EU benötigt eine effizientere Entscheidungsfindung, angepasste demokratische Strukturen und eine für die Bevölkerung nachvollziehbar bessere Machtbalance.

Auf einen Blick

Sieben Schritte. In sieben historischen Schritten hat sich die ehemalige Kohle-Stahl-Gemeinschaft von sechs Teilnehmerländern zur heutigen Europäischen Union weiterentwickelt. Am 1. Juli tritt Kroatien als 28. Mitglied bei.

Wirtschaftliches Projekt. Die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten hat den EU-Binnenmarkt vergrößert und das Wachstum angekurbelt.

Politisches Projekt. Die Erweiterung wurde zum Hebel für einen politischen Transformationsprozess – vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, aber nun auch in Ex-Jugoslawien. Das rasche Wachsen bedingt aber auch eine interne Reform der EU.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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