Auf dem Scheideweg zwischen Ost und West

Ukraine. Eigentlich wollte die EU mit Kiew im November ein Assoziierungsabkommen fixieren. Doch der Pakt ist in Gefahr – nicht zuletzt, weil sich Staatschef Janukowitsch dafür zwischen Brüssel und Moskau entscheiden müsste.

Brüssel. Gemäß der außenpolitischen Lehre klassischer Prägung liegt es im vitalen Interesse eines Staates, von freundlichen und möglichst harmlosen Nachbarn umgeben zu sein, die im Notfall als Buffer zwischen dem eigenen Territorium und Feindesland fungieren – das Jahrhunderte andauernde Hickhack um das heutige Belgien ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel. Dieses Paradigma wurde in Europa 1945 zu Grabe getragen, und in Folge wurde die Daseinsberechtigung der Europäischen Gemeinschaft unter anderem mit der Überwindung dieses Großmachtkalküls begründet: Europa sollte fortan ein Klub sein, der weder zwischen Starken und Schwachen unterscheidet, noch einem Beitrittswilligen die Tür weist – eine Politik, die in der Osterweiterung 2004 kulminierte.

Doch was tun mit einem Nachbarn, der aufgrund seiner Bedeutung das Zeug zum Problemfall hat, sich andererseits aber selbst nicht im Klaren ist, wo sich sein geopolitischer Platz befindet? Kein Land verdeutlicht dieses Dilemma besser als die Ukraine – und die bemüht-verkrampften Beziehungen zwischen Brüssel und Kiew spiegeln die Situation gut wider.

Im Rahmen der sogenannten Ostpartnerschaft der Union verhandeln die EU und die Ukraine seit Jahren über ein Assoziierungsabkommen, das unter anderem Handels- und Visaerleichterungen umfasst. Eigentlich sollte dieses Abkommen im November in Vilnius unterzeichnet werden, doch in den EU-Hauptstädten gibt es ernsthafte Bedenken bezüglich der ukrainischen Rechtsstaatlichkeit – der prominenteste Streitfall ist die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko.

Das dahinterliegende Problem ist, dass sich der ukrainische Staatschef, Viktor Janukowitsch, anscheinend nicht entscheiden kann (oder will), ob die Zukunft seines Landes im Osten oder im Westen liegt. Während Russland mit einer Zollunion, billigem Erdgas und Nachsicht bei der Verfolgung politischer Feinde lockt, fürchten sich die einflussreichen ukrainischen Großindustriellen vor der tödlichen Umarmung durch russische Oligarchen und wünschen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Dass diese beiden Wege nicht kompatibel sind, wurde in Brüssel wiederholt thematisiert. „Die Ukraine kann nicht gleichzeitig am Binnenmarkt und an der Zollunion mit Russland teilnehmen“, sagte EU-Kommissionschef José Manuel Barroso Ende Februar am Rande eines Treffens mit Janukowitsch.

Angst vor prorussischer Lobby

Nichtsdestotrotz sieht Kiew den Ball in der Brüsseler Spielhälfte – oder, wie es der ukrainische EU-Botschafter Kostiantyn Yelisieiev formulierte: „Ein Scheitern der Verhandlungen wäre das Eingeständnis der Schwäche der EU.“ In Kiew hält man die EU-Kritik an der Arbeitsweise der ukrainischen Justiz für fadenscheinig und macht stattdessen eine prorussische Lobby, der auch Deutschland angehören soll, für die Verstimmungen verantwortlich. Als Argument dient Kiew dabei die schleppende Harmonisierung der europäischen Gasmärkte samt eines vereinheitlichten Pipeline-Netzes, von der sich die vom russischen Monopolisten Gazprom abhängige Ukraine Rückendeckung erhofft.

In der Tat besteht die russisch-ukrainische Gasfreundschaft nur auf dem Papier. Einen offenen Konflikt wie im Winter 2005/2006, als Moskau der Ukraine – und damit Teilen der EU – den Gashahn zudrehte, gibt es derzeit zwar nicht. Doch die Beziehung trägt dysfunktionale Züge – russisches Gas, das Kiew auf Umwegen vom deutschen RWE-Konzern kauft, ist billiger als direkte Lieferungen von Gazprom.

Doch die Schuld allein der Ukraine zuzuweisen wäre nicht fair, denn auch Europa ist sich nicht eins über die Vorgehensweise. Während alteingesessene EU-Mitglieder wie Frankreich eher auf der Bremse stehen, setzt sich Polen vehement für Kiew ein – auch aus Eigennutz, denn eine von Russland unabhängige, proeuropäisch eingestellte Ukraine würde den räumlichen Abstand zum ehemaligen „Großen Bruder“ vergrößern. Womit wir am Ende doch wieder bei der klassischen Außenpolitik angelangt wären.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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