„Es gibt nur noch nationalistische Episoden“

Interview. Die Schriftstellerin Slavenka Drakulić fordert weniger Zuckerbrot und mehr Peitsche im EU-Beitrittsprozess.

Die Presse: 1992, als in Kroatien Krieg war, hätten Sie da gedacht, dass das Land 20 Jahre später EU-Mitglied wird?

Slavenka Drakulić: Damals im Krieg hat wohl niemand so weit in die Zukunft gedacht, daran, was in 20 Jahren sein könnte. Ich jedenfalls nicht. Aber ich finde es interessant, dass relativ bald nach Kriegsende – also zehn Jahre danach – unsere Regierung schon über einen Beitritt nachgedacht hat. Interessant, weil das ja bedeutete, dass wir nur sehr kurze Zeit unsere Unabhängigkeit genießen würden. Wenn ein Land der EU beitritt, muss es ja Souveränität aufgeben. Das ist auch ein Argument, das rechte Politiker in Kroatien verwenden: Haben wir wirklich dafür gekämpft, wieder Teil einer Union zu werden?

Was hat die Menschen dann letztlich überzeugt, dass es doch gut ist, wieder einer Union beizutreten?

2003 gab es mit Ivo Sanader einen neuen Premier. Er hat eine damals sehr nationalistische HDZ „geerbt“ und es geschafft, den Fokus der Partei Richtung EU-Mitgliedschaft zu verschieben. Er war europäisch orientiert, hatte in Innsbruck studiert und spricht mehrere Sprachen, offensichtlich der richtige Mann dafür. Leider hat sich dann herausgestellt, dass er auch ziemlich korrupt war, und jetzt sitzt er im Gefängnis. Aber in Sachen EU hat er das Richtige getan. Auch wenn dieses Lob aus dem Mund einer HDZ-Gegnerin überrascht: Anerkennung, wem Anerkennung gebührt. Sanader hat damals einfach für ein neues Klima gesorgt.

Ist der Zeitpunkt für den Beitritt optimal? Sowohl, was die Bereitschaft Kroatiens betrifft als auch den Zustand der EU, der ja nicht so rosig ist?

Klar, vor zehn Jahren wäre es besser gewesen: Die EU war wohlhabender, es gab keine Krise, die Aussichten für Beitrittsländer waren besser. Und auch der Enthusiasmus gegenüber einer Erweiterung war größer. Heute herrscht ein Gefühl der Enttäuschung: All die osteuropäischen Beitrittsländer außer Polen beklagen sich, man behandle sie als EU-Bürger zweiter Klasse. Und die meisten von ihnen benehmen sich ja auch wie EU-Bürger zweiter Klasse.

In welcher Hinsicht?

Wenn man nach Ungarn, Rumänien oder Bulgarien schaut, sieht es so aus, als würden sich diese Länder nicht sehr darum scheren, was aus Brüssel kommt, sondern einfach machen, was sie wollen. Es gibt ungezügelten Nationalismus, ungezügelte Korruption. Im ganzen Beitrittsprozess gibt es zwar das Zuckerbrot, es fehlt aber die Peitsche. Das müsste ausbalanciert werden.

Nationalismus ist auch in Kroatien weiter ein Thema. Kann das der EU noch Probleme bereiten?

Kaum. Ich glaube, der ungarische ist ein viel größeres Problem. Und die antimuslimischen, einwandererfeindlichen Tendenzen. Früher gab es vor allem Jörg Haider und seine Partei, aber die war in Europa isoliert. Heute gibt es 20 solche Parteien, und sie sind im Parlament, oft in der Regierung. Sie sind sehr marktschreierisch und nutzen die Sorgen der Leute aus. Wobei diese Sorgen, etwa den Job zu verlieren, ja real sind. Nein, kroatischer Nationalismus wird in der EU keine Rolle spielen.

Aber wohl in Kroatien.

Ja, vielleicht, aber der kroatische Nationalismus heute kann mit dem vor zehn, 15 Jahren nicht verglichen werden. Damals war er ein Teil der politischen Agenda, was normal ist bei einem Land, das gerade einen Krieg hinter sich hatte. Heute gibt es nur mehr nationalistische Episoden. Als etwa 2012 die Generäle Ante Gotovina und Mladen Markač vom Haager Kriegsverbrechertribunal freigesprochen wurden (nach langjährigen Haftstrafen in erster Instanz; Anm.), waren 100.000 Leute auf der Straße. Aber das war es dann auch.

Wie haben Sie das empfunden? Dachten Sie: „Oh nein, jetzt geht das alles wieder los“, oder haben Sie das eher entspannt gesehen?

Viele haben das ziemlich entspannt gesehen. Es ist, was es ist: 100.000 Leute auf der Straße, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger, vor allem Hardcore-Nationalisten, und die Sache hat sich dann auch sehr rasch wieder gelegt. Man kommt heute in Kroatien damit einfach nicht weit. Es gibt da natürlich Rückwirkungen auf das Thema Versöhnung, wobei die derzeit ohnehin auf einem sehr niedrigen Level ist. Das liegt aber eher an Serbien, wo derzeit mit Tomislav Nikolić ein bekannter Radikaler an der Staatsspitze steht. Das war schon ein großer Rückschritt verglichen mit seinem Vorgänger Tadić. Versöhnung muss nämlich von oben, von der Politik, kommen, nicht von unten.

Ist Versöhnung wirklich etwas, was man verordnen kann wie ein Arzt Medizin?

Man kann, auf jeden Fall.

Was macht Sie da so sicher?

Weil ich weiß, wie das funktioniert. Und so wie der Krieg eine vorsätzliche Entscheidung der Politik war und nicht von unten kam, so muss auch die Versöhnung als bewusste Entscheidung von oben kommen.

Sie meinen, Kriege brechen nicht aus, sie werden gemacht?

Absolut. Das ist meine tiefe Überzeugung – und leider auch Erfahrung. Die Versöhnung wiederum hängt mit dem Thema Wahrheit und der gerichtlichen Aufarbeitung zusammen: Das Haager Tribunal wurde 1992 eingerichtet, weil die Länder nicht in der Lage waren, ihre eigenen Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Von 3000 Leuten, die vor Gericht hätten landen sollen, waren es nicht mal 300, aber es ist symbolisch. Und Symbole sind wichtig, gerade in der Politik. Noch wichtiger ist die Wahrheit, die während der Prozesse ans Licht kommt. Der Prozess gegen General Krstić (der hochrangige bosnisch-serbische Militär wurde 2001 verurteilt) hat etwa ein Licht auf den Genozid in Srebrenica geworfen. Aber noch bis vor drei Jahren, als das Belgrader Parlament eine Resolution zu Srebrenica verabschiedete, haben viele Serben Srebrenica abgestritten.

Ist nicht die Bevölkerung schon Jahre zuvor durch das sogenannte „Srebrenica-Video“ aufgerüttelt worden?

Sie haben die Ereignisse auch danach noch abgestritten.

Auch in der Resolution fehlt das Wort Genozid.

Ich weiß. Aber es wurde immerhin anerkannt, dass etwas passiert ist, dass Menschen getötet wurden. Wir können jetzt diskutieren, ob es ein Genozid war oder nicht. Ich denke ja, das hängt nicht von der Opferzahl ab, sondern von der Absicht. Die Vergangenheit kommt immer wieder zurück, deshalb muss man sich ihr stellen und einen gemeinsamen Nenner finden, ein Minimum, das unumstritten ist: Das und das ist passiert, so und so viele Menschen wurden getötet, das haben eure Leute getan, das haben unsere Leute getan.

Dazu zählt auch anzuerkennen, dass man in einem Verteidigungskrieg Verbrechen begehen kann. Wie weit ist dieser Diskussionsprozess in Kroatien?

Er verläuft sehr langsam. Wann immer ich sage, dass das geschehen müsste, hält man mir entgegen: „Aber in Österreich hat es auch so lange gedauert, sich der Vergangenheit zu stellen.“

Zur Person

Slavenka Drakulić (geboren 1949 in Rijeka) ist eine der bekanntesten kroatischen Schriftstellerinnen. Sie schreibt nicht nur Romane, sondern kommentiert auch regelmäßig in den verschiedensten Zeitungen aktuelle Entwicklungen. Ihr Engagement brachte ihr während des Kroatien-Krieges den Hass nationalistischer Kreise ein. Nach einer Reihe von Todesdrohungen verließ sie damals das Land. In den vergangenen 20 Jahren lebte sie abwechselnd in Kroatien, Schweden (sie ist mit dem schwedischen Autor und Journalisten Richard Swartz verheiratet) und Österreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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