Bosnien-Herzegowina droht vergessen zu werden

Abgeschlagen. Einst galt Bosnien-Herzegowina als tolerantestes unter den Ländern der Südslawen. Heute ist es intern völlig gespalten und scheint jede EU-Perspektive verloren zu haben. Von unserer Mitarbeiterin NINA BRNADA

Sarajewo. Eigentlich heißt es ja, die Europäische Union würde Menschen einander näherbringen. Auf dem Balkan jedoch entzweit sie vorerst mehr als sie zusammenführt. Zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina, wo es früher keine Schranken gab, wo einst Jugoslawien war, verläuft nun eine Grenze, die mit kommendem Monat eine der am strengsten bewachte Europas sein wird. Unter anderem wird hier nämlich die neue EU-Außengrenze verlaufen.

Denn am 1. Juli wird Kroatien als zweites ex-jugoslawisches Land nach Slowenien der EU beitreten. Damit wird die EU-Außengrenze mitten durch ein Gebiet verlaufen, das einst miteinander verbunden war. Nicht nur, aber auch, weil diesseits und jenseits der Grenze Kroaten leben. In Bosnien-Herzegowina wohnen über eine halbe Million Menschen, die neben der bosnisch-herzegowinischen auch die kroatische Staatsbürgerschaft haben. Mit dem EU-Beitritt Kroatiens werden auch sie automatisch zu EU-Bürgern. Ihre Heimat Bosnien-Herzegowina jedoch hat kaum Aussicht auf eine Mitgliedschaft. Der Grund dafür liegt in der Bevölkerungsstruktur dieses Landes, einer der kompliziertesten Europas. Einst galt Bosnien-Herzegowina mit seiner multikulturellen Bevölkerung als das toleranteste Land unter den sechs ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken. Durch den brutalen Krieg der frühen 1990er-Jahre wurde jedoch die vielschichtige Gesellschaft nahezu vollständig zerstört. Der Friedensvertrag von Dayton aus dem Jahr 1995 brachte zwar Frieden, aber auch ein sehr undurchsichtiges Staatssystem, das wohl mit ein Grund für die heutige Lage des Landes ist.

Ein Land, drei Völker

Im Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina leben rund 3,9 Millionen Menschen. Er ist in zwei sogenannte Entitäten geteilt: in die serbische Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation. Das Land erkennt drei konstitutive Völker an, nämlich die meist muslimischen Bosniaken, die katholischen Kroaten und die christlich-orthodoxen Serben. Menschen, die nicht einer dieser drei Gruppen angehören, werden systematisch diskriminiert und haben beispielsweise kein Recht darauf, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Dervo Sejdić, Vertreter der Roma-Organisation in Bosnien-Herzegowina, und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Jakob Finci, hatten deswegen beim Europäischen Gerichtshof eine Klage eingereicht. Bereits im Jahr 2009 bekamen sie recht. Das Urteil jedoch wurde bis heute nicht implementiert, was der Grund dafür ist, dass es mit der EU nicht einmal ein Assoziierungsabkommen gibt.

Das Land scheint jegliche EU-Perspektive verloren zu haben, im Gegensatz zu anderen Ländern der Region, die allesamt kleinere oder größere Erfolgsgeschichten sind. Selbst Albanien wird zumindest eine Chance auf einen Beitritt nicht abgesprochen – einem Land, das während des Kalten Krieges so isoliert war wie kaum ein anderes.

Nur Bosnien-Herzegowina, das Land, das im Jugoslawien-Krieg am meisten gelitten hat und dadurch viele Jahre im Fokus der Weltöffentlichkeit stand, scheint vergessen und sich selbst zu vergessen. So gibt es nicht nur Probleme bei der EU-Annäherung, sondern auch innenpolitische Instabilität. Die aktuelle Regierung brauchte 16 Monate, um sich zu formieren.

Im Protest plötzlich vereint

In jüngster Zeit aber gibt es landesweite Proteste, weil sich die Politiker des Landes nicht auf eine Neuregelung der Vergabe von sogenannten Personenregisternummern einigen konnten. Welche dramatischen Auswirkungen das haben kann, zeigt der Fall eines kranken Mädchens, das wegen der fehlenden Nummer nicht rechtzeitig ins Ausland zu einer überlebensnotwendigen Operation ausreisen konnte und starb. Angestoßen durch diese Entwicklung protestieren die Bürger Bosnien-Herzegowinas nun gemeinsam, über alle ethnischen Grenzen hinweg – in einem Land, wo alles durch das Prisma der nationalen Zugehörigkeit betrachtet wird, ist das ein neues Moment und vielleicht sogar die einzige Chance.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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