Erster Weltkrieg: Der Sprung ins Dunkle

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Die Zündschnur: 1914 wurden die Weichen für einen gesamteuropäischen Krieg gestellt. Die politischen Eliten versagten. Ist es denkbar, dass Europa ohne das Attentat von Sarajewo friedlich geblieben wäre?

Wer war der wichtigste Mann des 20. Jahrhunderts? Einstein, Hitler, Stalin, Gorbatschow? Wagen wir die These, dass es ein junger bosnischer Serbe mit unglücklicher Kindheit war, ein dünner und kränklicher Schulversager, der 1914 durch Zufall in die emotional hoch aufgeladene Umgebung serbischer Nationalisten geriet. Sein Name: Gavrilo Princip. Seine Freunde: ein Kreis junger Männer, die von dem Gedanken, ihr Leben wegzuwerfen, begeistert waren und als Märtyrer des Widerstands gegen Habsburg-Österreich in die Geschichte eingehen wollten. Durch eine Reihe von Zufällen stand Princip mit einer Waffe in der Hand zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, als der österreichische Thronfolger die bosnische Hauptstadt Sarajewo besuchte. Er erschoss ihn und seine Gattin. Das geschah am 28.Juni 1914, Europa war an diesem Tag ein friedlicher Kontinent. Nur 37 Tage später begann ein Krieg, der 20 Millionen Tote forderte. Er zerstörte vier Monarchien und hinterließ ein Machtvakuum, in dem sich der Nationalsozialismus in Deutschland und der Bolschewismus in Russland ausbreiten konnten. Die Gräuel des 20. Jahrhunderts haben hier ihren Ursprung, aus der ersten Katastrophe des Jahrhunderts ergeben sich alle folgenden bis hin zu den Kriegen in Jugoslawien und in der geopolitisch instabilen Region des Nahen und Mittleren Ostens. Ohne Princip kein Leninismus, kein Stalinismus, kein Hitler, kein Holocaust, kein Kalter Krieg.

Ein Einzelner soll eine Kettenreaktion in Gang gesetzt haben, die letztlich den Tod von 80 Millionen Menschen zur Folge hatte? Könnte das Blutbad des 20. Jahrhunderts demnach eine Art Laune des Schicksals gewesen sein, wie der amerikanische Sozialwissenschaftler Steven Pinker in seiner Geschichte der Gewalt schreibt und wäre das nicht eine ungeheure Respektlosigkeit gegenüber den Opfern? Hunderte Historiker haben Princips Bedeutung heruntergespielt und nachzuweisen versucht, dass der Erste Weltkrieg ohnehin und ohne ihn stattgefunden hätte, dass der große Machtkampf in der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre jener Zeit früher oder später ausbrechen musste. Viele Spuren wurden bis weit zurück ins 19.Jahrhundert aufgedeckt, historische Handlungszusammenhänge wurden gefunden, und alle führten sie direkt hin zu der großen Auseinandersetzung.

Pannen. Doch die Diskussion darüber, ob der Krieg in Europa zwangsläufig und überdeterminiert war, nimmt an Lebhaftigkeit zu. Offenbar hat jede Zeit ihren eigenen Blick auf das Jahr 1914. Neuerdings wird lebhaft diskutiert über die Folge von groben handwerklichen Pannen und Fehleinschätzungen überforderter Entscheidungsträger, die eine unnötige und anachronistische Katastrophe heraufbeschworen haben. Die Ereignisse auf dem Balkan rücken wieder stärker in den Vordergrund, die geopolitische Zündschnur, die das Pulverfass zur Explosion gebracht habe. Denn unbestritten ist: Das Vorkriegseuropa war ein gefährlicher Ort, voll von leichtsinnigen und aggressiven Politmanövern. Die Personen an der Spitze der Staaten schienen sich nicht im Klaren zu sein, wo sie hinsteuerten, um wie viel es tatsächlich ging. Sie zerstörten in wenigen Jahren das ausbalancierte System, das „Konzert der Mächte“, das Europa viele Jahrzehnte Frieden beschert hatte.

Jahrzehntelang war für die Historiker klar, wer den entscheidenden Misston in das Mächtekonzert eingeführt hatte: Deutschland. Wirtschaftlich von Angst erregender Dynamik, innenpolitisch geprägt von altpreußisch-atavistischen Herrschaftsstrukturen, außenpolitisch auffällig durch Bluff- und Erpressungsrhetorik, mit einem schwadronierenden Kaiser Wilhelm II. an der Spitze, der kein diplomatisches Fettnäpfchen ausließ und gern alberne martialische Sprüche von sich gab. Am gefährlichsten aber: die Einkreisungsphobie, das Gefühl, einer französisch-russisch-englischen Koalition kriegslüsterner Gegner ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Diese Obsession, „losschlagen“ zu müssen, befiel auch nachdenkliche und gar nicht kriegstreiberische Staatsmänner wie den deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg, die Militärs sprachen ohnehin Tag und Nacht vom nötigen Präventivkrieg. Stattdessen wäre im Juli 1914 verantwortungsvolle Politik nötig gewesen. Die Eskalation zwischen Wien und Belgrad wäre verkraftbar, der Konflikt lokalisierbar gewesen, wenn Berlin mehr Friedensinteresse gezeigt und mäßigend auf Wien eingewirkt hätte. Stattdessen setzte man auf ein Vabanquespiel, bei dem der Ausbruch einer großen Katastrophe wissentlich in Kauf genommen wurde.

Unmittelbar nach dem Attentat hatte die Habsburgermonarchie im europäischen „Konzert“ gar nicht so schlechte Karten: Das Entsetzen in Europa über den „Königsmord“ war groß, der Jubel der panserbischen Nationalisten tat das Seine dazu. Kaiser Wilhelm machte dem Verbündeten den Vorschlag, schnell zuzuschlagen, ein Fait accompli zu schaffen.

Die österreichische Regierung sah die Gelegenheit gekommen, sich des leidigen Balkan-Problems endlich zu entledigen, Serbien als politischen Machtfaktor auszuschalten, dem Panslawismus das Haupt abzuschlagen und Russland zu zeigen, wer Herr auf dem Balkan ist. Jede andere Antwort auf das Attentat hätte dem Großmachtstatus des ohnehin wankenden Vielvölkerstaats irreparablen Schaden zugefügt. Eine reflexartige Reaktion Österreichs auf die Provokation, ein sofortiger Angriff, hätte die Sache vielleicht bereinigt. Doch ach: Schnelligkeit ist nicht gerade das Markenzeichen österreichischer politischer Kultur. Kaiser Franz Joseph sandte ein Memorandum nach Berlin, in dem er seine Entrüstung über das Geschehene in blumigen Metaphern kundtat. Vorahnungen statt klarer politischer Optionen, Drohungen statt eines präzisen Aktionsplans. Kein Wunder, dass man beim deutschen Verbündeten die Sache erst mal mit Skepsis betrachtete.

Prestigedenken. Als Österreich-Ungarn das Ultimatum an Serbien mit Inhalten füllte, die mit Sicherheit abgelehnt würden, waren die Weichen auf einen gesamteuropäischen Krieg gestellt. Für einige Tage lag es in der Hand Russlands, ob es einen großen kontinentalen Krieg geben würde. Aber auch für Russland war die serbische Angelegenheit eine Frage des Prestiges geworden. Prestige war in diesem Moment „die Währung der internationalen Politik“ (Christopher Clark). Die Bündnismechanik trat in Kraft, die Briefe Kaiser Wilhelms an seine Cousins, den englischen König George und den Zaren Nikolaus, kamen zu spät.

Man würde es sich zu einfach machen, die Leichtfertigkeit der Elite von 1914 zu verurteilen. Denn die Staatsmänner, die den Krieg begannen, hatten schlicht nur vage Vorstellungen von dem, was dann wirklich kam. Die verheerende Wirkung von Maschinengewehren, Giftgas, Schlachtfelder wie die von Verdun – all das war jenseits ihres Vorstellungshorizonts. Es war ein Sprung ins Dunkle.

Zurück zu Gavrilo Princip. Ein virtuelles Szenario: Ohne seine Tat hätte Europa das Jahr 1914 ohne Krieg überleben können. Es hätte im 20. Jahrhundert wohl dennoch Kriege gegeben, aber die Vorstellung, dass sich ohne die Macht des Zufalls das Jahrhundert ganz anders hätte entwickeln können, dass die Geschichte gewürfelt hat, hat etwas Verstörendes und Erschreckendes. Man könnte meinen, die Sicht auf die Multikausalität des Kriegs habe sich aus psychologischen, nicht wissenschaftlichen Gründen durchgesetzt. Die moralische Befriedigung, die es bereitet, Kriegsursachen, Verantwortung und Schuld geklärt zu haben, ist angesichts der Opferzahlen nicht zu bestreiten. Und der Gedanke, es hat so kommen müssen, hat etwas Beruhigendes.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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