Analyse: Chinas Blick auf Taiwan

Was China über Taiwan denkt

Ein Blick auf die Verbotene Stadt in Peking.
Ein Blick auf die Verbotene Stadt in Peking.APA / AFP / Wang Zhao
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Taiwan ist für die KP Ausdruck der Niederlage des Landes gegen die Kolonialmächte im Westen und Japan. Innenpolitisch unter Druck, wähnt sich Xi Jinping von ausländischen Mächten umzingelt und verschärft den Ton in der Taiwan-Frage.

Die Vereinigung mit dem Vaterland sei eine historische Notwendigkeit, sagte Xi Jinping bei seiner Ansprache zum Jahreswechsel. Im Hintergrund ein Bild der chinesischen Mauer und Chinas Nationalflagge beschwor Chinas Staats- und Parteichef die gemeinsame Teilhabe der „Landsleute an beiden Seiten der Taiwan-Straße“ am „großartigen Ruhm“ der „nationalen Wiederbelebung“.

Schon im August 2022, im ersten Weißbuch zur Taiwan-Frage seit der Jahrtausendwende, hatte die KP-Führung die Wiedervereinigung mit Xi Jinpings „chinesischem Traum“, einer Erneuerung der Nation in Verbindung gesetzt. Es war das erste Mal, dass diese beiden Ziele in einem politischen Dokument zusammengeführt wurden. Der Wiederaufstieg Chinas soll bis 2049, dem 100. Geburtstag der Volksrepublik China, vollzogen sein.

Das „Jahrhundert der Erniedrigung“

Eben darum spricht der mächtige KP-Chef auch von einer historischen Notwendigkeit: Ebenso wie die Sonderverwaltungszone Hongkong ist Taiwan für die Kommunistische Partei ein Ausdruck der früheren Schwäche seines Landes gegen Ende des Jahrtausende währenden Kaiserreichs. China musste territoriale Einbußen hinnehmen.

Das sogenannte „Jahrhundert der Erniedrigung“ hat sich in das kollektive Gedächtnis Chinas eingebrannt. Es begann mit dem ersten Opiumkrieg gegen Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts und endete mit der Gründung der Volksrepublik 1949 unter Mao Zedong. Für China war es geprägt von Niederlagen gegen die Kolonialherren aus dem Westen und Japan.

Peking beruft sich auch Kairoer Erklärung

Der Inbegriff dieser Unterlegenheit sind nach wie vor die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong und Taiwan. Das Qing-Reich musste die Insel (damals noch unter dem Namen Formosa) und die Inselgruppe Pescadores (Penghu) nach Ende des Chinesisch-Japanischen Krieges 1895 an die verhasste ostasiatische Macht abtreten. Erst ein paar Jahre zuvor, 1883, hatte der Qing-Kaiser Taiwan offiziell zur Provinz des Reiches erklärt. Noch während des Zweiten Weltkriegs verständigten sich die USA, Großbritannien und die nationalchinesische Regierung unter der Kuomintang 1943 in der Kairoer Erklärung darauf, dass alle von Japan geraubten Gebiete, wie die Mandschurei, Formosa und die Pescadores, an die Republik China zurückgegeben werden sollten.

Noch heute rechtfertigt die Pekinger Regierung ihren Anspruch auf Taiwan mit dieser Übereinkunft. Und das obwohl sie von der Kuomintang unter Chiang Kai-shek unterzeichnet wurde. Jenem Gegenspieler Mao Zedongs, der nach der Niederlage gegen die Kommunisten im Bürgerkrieg nach Taiwan floh. In den Augen Pekings wurde Taiwan damals zur „abtrünnigen Insel“, die wieder in die KP-Herrschaft eingegliedert werden sollte.

Priorität liegt auf „friedlicher Vereinigung“

Die von Chiang gegründete Diktatur auf Taiwan hingegen verstand sich lange selbst als der einzige Repräsentant Chinas und forderte die Vereinigung mit dem Festland - unter der Führung Taipehs. Mit der Demokratisierung Taiwans Ende der 1990er Jahre und dem Aufbau eines de facto eigenständigen Staates gab die Politik das Ziel der Wiedervereinigung auf.

Pekings Priorität ist weiterhin eine „friedliche Wiedervereinigung“ – mit der Option auf eine militärische Einnahme der Insel. Die Vereinigung soll unter der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ erfolgen, die bereits in Hongkong angewendet wurde. Nachdem Peking die politischen, justiziellen und gesellschaftlichen Freiheiten in der Sonderverwaltungszone nach monatelangen Protesten 2019 massiv einschränkte, lehnen Taiwaner das Modell aber großteils ab. Nach einer Umfrage der National Chengchi University vom vergangenen Juni stimmen nur 1,6 Prozent der Befragten einer Vereinigung mit dem Festland zu. Zwei Drittel sehen sich mittlerweile als reine Taiwaner.

Hälfte der Chinesen unterstützt militärische Lösung

Umfragen unter Festlandchinesen freilich zeigen ein anderes Bild - wenn auch überraschend differenziert. Laut einer im Mai im Fachmagazin Contemporary Journal of China veröffentlichten Studie sind 71 Prozent der Befragten gegen ein selbst verwaltetes Taiwan in der heutigen Form. Ein Fünftel aber kann sich vorstellen, dass Taiwan nie mehr angegliedert werde. Dennoch befürwortet die gute Hälfte der Teilnehmer eine militärische Lösung, ein Drittel ist dagegen.

Schon seit geraumer Zeit nutzt die KP-Führung Nationalismus, um ihre Herrschaft zu festigen. Vor dem Hintergrund der angespannten Beziehungen zu westlichen Staaten, allen voran den USA, will sie auch die Taiwan-Frage zu ihren Gunsten nutzen. Das schwache Wachstum, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Unzufriedenheit der Pensionisten, die Korruption in höchsten Führungszirkeln, all das soll angesichts der Einflussversuche „externer Kräfte“ wie der USA oder der EU in Chinas interne Angelegenheiten in den Hintergrund rücken.

Xi Jinping wähnt seine Nation umzingelt, unterdrückt, eingegrenzt. Tatsächlich stärken die USA ihre Allianzen mit Verbündeten in der Region, wie Japan, Südkorea, Australien und den Philippinen, um Chinas militärischen Ambitionen Einhalt zu gebieten. „Unter Xi hat die KPCh Chinas ‚umfassende nationale Sicherheit‘ zu einem Schlüsselparadigma gemacht, das alle Aspekte der Regierungsführung durchdringt“, schreibt das Berliner China-Institut Merics in einer Analyse. Sicherheit sei das oberste Prinzip, Pragmatismus weiche Ideologie, die Spannungen in der Taiwan-Straße nehmen zu.

Festlandchinesen wissen kaum Bescheid

So wird auch der Ton in den festlandchinesischen Medien rauer, die immer öfter eine gewaltvolle Wiedervereinigung fordern. Die Wahlen entscheiden über „Krieg und Frieden, Wohlstand oder Rückgang“, schrieb die nationalistische „Global Times“. Sie bedient sich damit einer gängigen Argumentationslinie des KP-Regimes: Demokratie bedeute Chaos und Wirtschaftsverfall. Das chinesische Modell aber garantiere Wachstum.

Wie sehr sich das Selbstverständnis der Inselbewohner seit der Demokratisierung veränderte, darüber wissen nur wenige Festlandchinesen wirklich Bescheid. Debatten über Taiwan und dessen politisches System werden in sozialen Medien genau beobachtet. Das Wort „Unabhängigkeit“ darf hier niemand in den Mund nehmen. Eine Netflix-Produktion über den Wahlkampf auf der demokratischen Insel, die in Taiwan für Furore sorgte, bekam am Festland niemand mit. Die Serie wurde hier nicht ausgestrahlt.

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