Religion: Migranten suchen Wir-Gefühl

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Für viele Jugendliche mit Migrations-Hintergrund ist Religion weniger eine Frage der Spiritualität als der Identität. „Die Jungen wollen den Ansprüchen der Gemeinschaft gerecht werden.“

WIEN. Sara ist in Wien geboren und in Baden aufgewachsen, sie hat die Handelsschule besucht und möchte vielleicht einmal Sprachen studieren. Ihre Eltern stammen aus Ägypten und aus dem Libanon, haben sie westlich-liberal erzogen, der Islam spielte keine große Rolle. Doch mit 18 beginnt Sara, ein Kopftuch zu tragen. „Weil ich Gott für so viel dankbar bin und das so zeigen möchte.“

Für den Soziologen und Islamwissenschafter Mouhanad Khorchide nichts Ungewöhnliches. Ihm zufolge entwickeln 50 bis 55 Prozent der jungen Muslime nach der Pubertät Interesse für ihre Religion. In welcher Form sei eine Frage der Bildung und der Position in der Gesellschaft. Einige Jugendliche mit guter Bildung wie Sara, etwa 13 Prozent, würden sich wirklich reflektiert mit Fragen nach Sinn und Ethik beschäftigen. Die Mehrheit der übrigen Interessierten sei auf der Suche nach einer kollektiven Identität.

„In den Herkunftsländern ihrer Familien werden sie als Europäer belächelt, sprechen die Sprache nur mit Akzent, haben eine andere Mentalität. Daher sind ihre Erwartungen an ihre Heimat Österreich hoch, höher als die ihrer Eltern.“ Wenn auch diese Erwartungen versagen und sie sich ausgeschlossen fühlen, erklärt Khorchide, „dann suchen sie ein Wir-Gefühl als Muslime.“

Fundamentalistische Tendenzen könne man aber keine entdecken, sagt Regina Polak vom Institut für Praktische Theologie der Uni Wien, die für die österreichische Jugendwertestudie 2006/07 auch die Religiosität von Jugendlichen mit Migrationshintergrund untersucht hat. „Es ist eher umgekehrt so, dass Jugendliche, die ihre religiöse Verankerung verlieren, eher anfällig sind für autoritäre Strömungen.“

Auch jene Hälfte der muslimischen Jugendlichen, die angibt, kein Interesse am Islam zu haben, macht durchaus religiöse Rituale mit – insgesamt 90 Prozent fasten, 80 Prozent besuchen das Freitagsgebet. Das liege daran, so Khorchide, dass es sich um kollektive Rituale handle, die von der Gruppe kontrolliert würden. „Die Jungen wollen den Ansprüchen der Gemeinschaft gerecht werden.“ Das Gebet zu Hause, das, wie auch die Koranlektüre, im Islam eigentlich mehr Gewicht habe, würden hingegen nur 18 Prozent der 16- bis 24-Jährigen praktizieren. Auf jeden Fall sei die Tatsache, dass der Islam in Österreich „nicht selbstverständlich“ sei, eine Herausforderung für die muslimischen Jugendlichen, sagt die Soziologin Nikola Ornig. „Sie müssen sich damit beschäftigen, was sie übernehmen wollen und was nicht.“ Vor einem gängigen Denkfehler warnt Alexander Osman von der Muslimischen Jugend Österreich: „Nicht alles, was auf den ersten Blick so ausschaut, als hätte es mit Religion zu tun, hat auch wirklich mit Religion zu tun, sondern einfach mit den sozialen Problemen von Jugendlichen.“

„Zwischen den Welten hängen“

Auch unter den Jugendlichen, deren Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, dient Religion vielfach der Bildung von Identität. „Während der Kriege in den 1990-er Jahren hat die Religion plötzlich eine wichtige Rolle gespielt“, sagt der Politikwissenschafter Vedran Dzihic, Direktor des Wien-Büros des Center for European Integration Studies. Religion sei als „symbolisches Unterscheidungsmerkmal“ geblieben. Auch unter den Migranten hätte der Krieg eine „gewisse Radikalisierung“ verursacht, Jugendliche brachten ihre Zugehörigkeit zu Serben, Kroaten oder Muslimen über religiöse Symbole zum Ausdruck. Unter den heutigen Jugendlichen gebe es jene, die „zwischen den Welten hängen“, und bei Anlässen wir der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo auf religiöse Symbolik zurück greife.

Eine zweite Gruppe sei, so Dzihic, stark auf ihre Wurzeln bezogen – das schließe auch die jeweilige Religion, ob katholisch, muslimisch oder serbisch-orthodox, mit ein. Eine dritte sei gänzlich assimiliert: „Die besuchen den Religionsunterricht mit den katholischen Mitschülern.“ Und dann sind da noch die „Jugo-Nostalgiker“, wie sie von Nationalisten gerne genannt werden: Die betrachten Religion als etwas dem Sozialismus – oder dessen Erbe – Fremdes. Doch das, sagt Dzihic, sei nur eine kleine Gruppe.

Auf einen Blick

Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund erachten Religion als ein Mittel, die Zusammengehörigkeit zu fördern. Spiritualität tritt daher oftmals in den Hintergrund. Vor allem eingewanderte Muslime, die in ihren Herkunftsländern als Europäer belächelt werden, wenden sich verstärkt der Religion zu, um so zu einem kollektiven „Wir-Gefühl“ zu kommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2009)

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