Achtfacher Oscar-Gewinner: Der Slum als Filmkulisse

Slum in Mumbai
Slum in Mumbai(c) Reuters (Arko Datta)
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Jubel und Zorn in Indien über den Film "Slumdog Millionär" des Briten Danny Boyle. Eine Reportage aus Dharavi, Indiens größter Armensiedlung in Bombay, wo Teile des Streifens spielen.

Indien taumelt nach den acht „Oscars“ für Danny Boyles Werk „Slumdog Millionär“ vor Glück. Alle Sender berichten über fast nichts anderes mehr. Die Gratulanten stehen Schlange, um vor allem Bollywood-Komponist A. R. Rahman, dem „Mozart von Madras“, zu seinen zwei Oscars zu gratulieren. Er habe mit seiner Musik „eine Brücke zwischen Ost und West“ geschlagen, sagt Filmemacher Rakeysh O. Mehra.

Premier Manmohan Singh meint, die überwiegend indische Filmcrew habe Indien stolz gemacht. Innenminister Chidambaram möchte gar die Geehrten von Steuern auf ihre Preisgelder befreien.

Die Kritik der letzten Wochen scheint verflogen. Hindunationalisten haben massiv protestiert und ein Verbot des Films gefordert. Bollywood-Star Amitabh Bachchan meinte, die Darstellung Indiens als dreckiges, unterentwickeltes Drittweltland verletze Nationalisten und Patrioten. Zeitungskommentatoren waren empört über das armselige Image, das der Film von der Atommacht zeichne: Es sei ein „Armutsporno“.

Hört jemand die Slumbewohner?

Doch die Slumbewohner selbst werden im Freudenrausch kaum gehört. Tapeshwar Vishwakarma, Slumaktivist aus Patna, zeigte die Filmmacher an, da sie die „Menschenrechte der Slumbewohner“ verletzt hätten. Bewohner von Dharavi, Bombays Riesenslum, wo Teile des Films gedreht wurden, demonstrierten jüngst vor einem Multiplexkino. Sie forderten das „Film Board“, die Zensurbehörde, auf, die Freigabe des Films zu überdenken. Vor allem die Darstellung ihres Viertels als pures Elendsquartier stört sie: „Wir sind bereit, Boyle zu zeigen, worum es in Dharavi geht“, sagte einer.

Ein Blick in Indiens größten Slum, einen der größten der Welt, wirkt zuerst erschreckend. Eine dunkle, stinkende Brühe schiebt sich zäh an dicht gedrängten Wellblechhütten vorbei. Exkremente liegen am Straßenrand; in dem Gebiet, wo mehr als eine Million Menschen leben, gibt's kaum Toiletten.

Doch aus dem Gassengewirr dringt Arbeitslärm. Männer in Unterhemden sitzen in Einzimmerwerkstätten unter Ventilatoren und nähen, hämmern, feilen. Im Kumbharwada-Viertel, dem ältesten Teil des Slums, liegen Säcke mit Tonerde herum. Auf offenen Plätzen liegt, wie seit alter Zeit, allerhand Töpferware zum Trocknen: Krüge, Schalen, Becher, Teelichter.

Auf Märkten bietet man Obst, Gemüse und Gewürze an. Läden verkaufen Waschpulver, Zigaretten und Telefonate. Hier sieht Dharavi aus wie ein riesiges Dorf, was es im Grunde auch ist: Die Bewohner sind meist vom Land. Entgegen der Annahme im Westen, Slums seien Orte des Elends, zeigt sich hier, mit wie viel Einsatz die Leute versuchen, für sich und die Kinder eine bessere Zukunft zu schaffen.

Frauen hängen vor den Hütten Wäsche auf. Davor sitzen Kinder und machen Hausaufgaben, während die Jüngeren durch die Gassen tollen. Das Innere der schlicht möblierten Hütten, deren Türen tagsüber stets offen stehen, ist makellos rein. Keiner bettelt. Die Menschen mögen arm sein: Ihren Stolz bewahren sie sich.

Bienenfleiß im Armenviertel

Ein Teil Dharavis recycelt Abfälle, die Müllsammler überall in der Stadt auflesen und an Zwischenhändler verkaufen. Die sortieren und verkaufen ihn weiter. In einer Gasse stapeln sich CD-Hüllen zu durchsichtigen Haufen. Lärm dringt aus Betrieben daneben, es riecht nach verbranntem Plastik. Männer mit Staubschutzmasken schreddern den Müll in archaisch anmutenden Maschinen. Das Granulat verkaufen sie weiter an Händler, von denen manche den aufbereiteten Abfall bis China exportieren. Dharavis 10.000 Kleinfirmen erwirtschaften pro Jahr geschätzt eine Milliarde Dollar.

Zumindest in Bombay werden die Slums geduldet. Vor Jahrzehnten begannen Stadtverwaltung und Landesregierung des Bundesstaats Maharashtra, die Slumbewohner in die Wahlregister aufzunehmen. Sie sollten als sichere Stimmenmassen bei Wahlen den entscheidenden Vorsprung bringen.

Doch die Politiker verschätzten sich: Die Slumleute erwiesen sich als informierte und kritische Wähler. Öfters brachten sie Regierungen zu Fall, von denen sie sich betrogen fühlten. Nun kommt keine Partei mehr an ihnen vorbei.

Das erklärt, wieso viele Slumbewohner „Slumdog Millionär“ ablehnen: Denn er zeigt nur grausige Seiten, wie Kinder, die verstümmelt werden, um mehr erbetteln zu können. Eine Szene zeigt Unruhen, bei denen Hindufanatiker 1993 in Bombay tausende Muslime töteten. Der Bruder der Hauptfigur schließt sich der Unterweltbande jenes Paten an, der den Slum im Film dominiert. So möchten Dharavis Bewohner nicht gesehen werden.

Jeder vierte Städter im Slum

Dennoch ist die dargestellte Armut nicht übertrieben. Ein UN-Bericht stuft ein Viertel der urbanen Inder als arm ein; 22,6 Prozent der Städter leben in Slums. Ihre Zahl wird weiterwachsen. Doch davor verschließen viele Mitglieder von Ober- und Mittelschicht die Augen. Die städtische Elite erlebt einen beispiellosen Aufschwung, in den Megacitys wachsen luxuriöse Wohnanlagen und Einkaufszentren. Fastfood-Restaurants, Schnellkaffeeketten, Boutiquen mit Markenmode: Die Beliebigkeit der globalisierten Konsumkultur verändert auch Indiens Städte.

Die Massenmedien berichten mit Vorliebe über Indiens Aufstieg, die immense, zunehmende Armut des Landes rutscht dagegen in den toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung.

Den besseren Klassen ist unwohl

Der Aufschrei aus der Elite, die Supermacht Indien werde von Danny Boyle geschmäht, entspringt dieser selektiven Wahrnehmung. Doch der Diskurs um „Slumdog Millionär“ rückt die bittere Realität ins Bewusstsein der besseren Klassen: „Da ist dieser Schuldkomplex, um den wir, die Mittelschicht, uns herummogeln“, sagt eine junge Frau. Sie hat sich den Film eben in einem Multiplex in Delhi angesehen. Als die Kinobesucher aus dem modernen Kino kommen, laufen ihnen schmutzige Straßenkinder entgegen und betteln. Sie sind so acht, neun Jahre alt, mit rußigen Gesichtern.

Viele Kinogänger starren zu Boden. Manche wirken entsetzt, als die Armut, die sie eben auf der Leinwand betrachteten, jäh in ihr Leben dringt. Der Schreck der abrupten Erkenntnis steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Einige graben, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, Münzen aus ihren Taschen und drücken sie den Kindern beschämt in die Hand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2009)

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